: Arbeit schützt nicht immer vor Armut
Lebenslagen Immer mehr Menschen können nicht von ihrer Arbeit leben, beklagen Wohlfahrtsverbände. Auch die Einführung des Mindestlohns helfe da wenig, da er die Menschen oft nicht über die Armutsgrenze hieve
aus Berlin Barbara Dribbusch
Der Anteil der Menschen mit Armutsrisiko ist in Deutschland auf einen neuen Höchststand seit der Wiedervereinigung gestiegen. 15,7 Prozent der Bevölkerung droht laut offizieller Statistik die Armut, beklagte der Paritätische Wohlfahrtsverband am Donnerstag bei der Vorlage seines neuen Armutsberichts.
„Wir haben es wieder mit einem zunehmenden Trend zu tun“, sagte Verbandsgeschäftsführer Ulrich Schneider. Die sogenannte Armutsgefährdungsquote war im Jahr 2014 im Vergleich zum Vorjahr auf 15,4 Prozent gesunken. Im Jahre 2006 hatte sie nur 14,0 Prozent betragen.
Der Verband bezieht sich auf Zahlen des Mikrozensus von 2015. Danach gilt als armutsgefährdet, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens hat. Die Gefährdungsschwelle für einen Alleinstehenden betrug in dieser Statistik 942 Euro Nettoeinkommen im Monat. Für ein Paar mit einem Kleinkind liegt sie bei 1.696 Euro netto im Monat.
Schneider allerdings spricht bei Leuten unterhalb dieser Schwelle nicht mehr von „Armutsgefährdung“, sondern konkret von „Einkommensarmut“. Er ging auf eine häufig gehörte Kritik an dieser Statistik ein, dass sich der Armutswert auch auf Menschen beziehe, die sich gar nicht als ausgegrenzt fühlen, zum Beispiel StudentInnen, die oft mit weniger als 900 Euro im Monat auskommen müssen. Es stimme, dass auch Studenten unter diesen Armen seien, so Schneider. Andererseits aber würden Hunderttausende von Wohnungslosen, Flüchtlinge ohne eigenen Hausstand und Heimbewohner von den Umfragen nicht erfasst. „Sehr viele arme Menschen gehen gar nicht ein in die Statistik“, so Schneider.
Die Armutsgefährdungsschwelle bezieht sich auf den „Median“, das „mittlere Einkommen“. Der Median ist die Einkommensgrenze, unter der die ärmere Hälfte der Bevölkerung liegt, und ist nicht zu verwechseln mit dem „Durchschnittseinkommen“. Nimmt das Einkommen in der ärmeren Hälfte der Bevölkerung zu, steigt auch der Median und damit die Armutsgefährdungsschwelle, die ja 60 Prozent dieses Medians beträgt. Im Jahre 2014 hatte die Schwelle, unter der jemand als armutsgefährdet gilt, noch bei unter 917 Euro für einen Single gelegen.
Der Anstieg der Armutsgefährdungsquote wirft Fragen auf, denn im Jahr 2015 wurde der Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde eingeführt, die Wirtschaft lief gut. Der Mindestlohn sei für die Armutsstatistik nicht von „hoher Relevanz“, weil er die Menschen „in der Regel nicht über die Armutsschwelle hieve“, so Schneider. Mit einer Vollzeitstelle kommt ein alleinstehender Mindestlohnempfänger auf ein Nettoeinkommen von über 1.000 Euro. Wer damit einen Partner maßgeblich miternähren muss, dessen Haushaltseinkommen rutscht aber schnell unter die Armutsschwelle für Paare. Und wer eine im Pflegebereich übliche 30-Stunden-Stelle hat, erreicht damit nur einen Verdienst von 850 Euro netto im Monat, bleibt also arm.
Dass Arbeit allein nicht immer das Armutsrisiko bannt, zeigt sich bei den Alleinerziehenden. Obwohl die Zahl der erwerbstätigen alleinerziehenden Mütter zunehme, steige deren Armutsrisikoquote, erklärte Erika Biehn, stellvertretende Bundesvorsitzende des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV), am Donnerstag bei der Vorstellung des Armutsberichts. Viele der erwerbstätigen Mütter müssten ihren Verdienst mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken.
Ulrich Schneider
Zu den Risikogruppen für Armut zählen inzwischen auch RentnerInnen. Innerhalb von zehn Jahren stieg die Quote der armutsgefährdeten Alten von 10,7 auf 15,9 Prozent.
In Bayern und Baden-Württemberg liegen die Armutsrisikoquoten am niedrigsten, in Bremen, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt am höchsten. „Es ist gut, dass die Frage von Ungleichheit, Ausgrenzung und sozialer Gerechtigkeit wieder zum Wahlkampfthema wird“, sagte Schneider.
Meinung + Diskussion
SEITE
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen