Helle Soprane und kraftvolle Bässe

Singen Der deutsche Chorverband lud am Wochenende zum siebten Mal zum Vokalfest Chor@Berlin ins Radialsystem, wo in Konzerten und Workshops zu erfahren war, warum es reizvoll ist, gemeinsam zu singen

Der Chor niniwe und seine nicht unbedingt konzentrationsfördernde Performance Foto: Folkert Uhde/Radialsystem

von Linda Gerner

Ein Abend nicht nur von und mit Chören, sondern auch für Chöre? Dieses Gefühl kommt im Foyer des Radialsystem V am Samstagabend auf. Der deutsche Chorverband lädt zum siebten Mal zum Vokalfest Chor@Berlin in den Veranstaltungsort an der Spree. Vor dem Einlass werden Sätze wie „Also ich singe ja mittlerweile im Jazzchor“ getauscht, es wird gefachsimpelt oder einfach über die neulich bei der Probe schief singende Nachbarin getratscht.

Bei der typisch hektischen Stuhlsuche dank freier Platzwahl kommen zwei Besucherinnen „Mamma mia“ singend in die hohe Halle des ehemaligen Abwasserpumpwerks. Und das passt auch. Denn an diesem Wochenende dreht sich im Radialsystem schließlich alles um die Musik, die mit der eigenen Stimme erzeugt wird. Alle Genres sind erlaubt.

Warum es reizvoll ist, gemeinsam zu singen, wird in den Konzerten der unterschiedlichen Berliner Chöre deutlich. Das Eröffnungskonzert am Freitagabend gibt eine vergrößerte Version des Vocalconsort Berlin unter der Leitung von Nicolas Fink. Zuletzt sang der Chor aus Profisängern bei der Einweihung der Hamburger Elbphilharmonie. Die hellen Sopranstimmen und kraftvollen Bässe überzeugen mit ihrer A-cappella-Darbietung. So etwa mit ihrem Schlusslied „Figure humain“ von Francis Poulenc. Die Kantate ist eines der wichtigsten Chorstücke. „Ich nehme gerne als Eröffnungskonzert Profichöre, damit die sogenannten Amateurchöre sehen können, mit welcher Qualität Chormusik dargeboten werden kann“, sagt der Leiter des Deutschen Chorverbandes Mortiz Puschke im Deutschland­radio.

Rituelle Performance

Beim ersten Konzert am Samstagabend sind mit der Berliner Gruppe niniwe erneut Profis auf der Bühne. Die vier ausgebildeten Jazzsängerinnen zeigen bei ihrem 15-jährigen Jubiläumskonzert „Into the Deep“ ihre Kunst des Singens facettenreich. Ihre Darbietung ist eine Höchstleistung der Stimmen. Ohne Pause für Zwischenapplaus gehen die Lieder fließend ineinander über, ein beeindruckendes Solo reiht sich an das nächste. Die Spannweite ihrer Lieder reicht dabei von Bach bis zu Sting. Ihr Konzert inszenieren sie rituell und nutzen die große Bühne des Radialsystems voll aus.

Zu Beginn rauscht es im Saal. Meeresrauschen? Vielleicht. Dann wird das Konzert von glockenklaren Stimmen eröffnet. Sie kommen direkt aus dem Publikum. Mit Jacke, Mütze und Schal sitzen die Sängerinnen zwischen den Besuchern und gehen singend langsam auf die Bühne. Diese gestalten sie in einer vielschichtigen Performance während des Konzertes um. Es wird an Fäden gezogen, um Zelte aus Tüchern zu errichten, Luftkissen werden sich auf der Bühne zugespielt, Liederzettel zerrissen. Schließen die Sängerinnen von niniwe ihre Augen, wird das Publikum von auf den Lidern aufgemalten Augen angestarrt. Es passiert viel auf der Bühne, zeitweise zu viel. Die Konzentration auf die intensiven Soli wird abgelenkt durch das Schauspiel der drei anderen Sängerinnen. „Man konnte sich in den Bildern richtig verlieren“, sagt eine Besucherin später.

Nach fast anderthalb Stunden durchgängigem Gesang beenden die Sängerinnen Winnie Brückner, Caroline Krohn, Hanne Schellmann und Lena Sundermeyer das Konzert, wie sie es begonnen haben. Im Publikum sitzend singen sie den Besuchern im Radialsystem direkt ins Ohr. Das ist nicht nur mutig, sondern unterstreicht die stimmliche Souveränität der Gruppe, die auch außer Sichtweite einen perfekt synchronen Klang erzeugt. Das Publikum entledigt sich der aufgebauten Anspannung in minutenlangem Applaus und Fußgetrommel für die Sängerinnen.

Alles dreht sich um die Musik, die mit der eigenen Stimme erzeugt wird

Beim anschließenden Konzert „Vocal Pop Late Night“ teilen sich die Bühne dann nacheinander die Chöre mongrooves, zimmmt und Gretchens Antwort. Der Chor moongroves macht seinen Namen zum Programm, zu fast jedem Lied wird eine bewegungsreiche Choreografie gezeigt. Ihre Stücke sind Interpretationen von Liedern wie „Still falling for you“ von Ellie Goulding oder „I want you back“ von Michael Jackson. Dieser sei schließlich ein Vorbild für die Sänger des Chores. Das Repertoire ist abwechslungsreich, kleinere stimmliche Schwächen gleicht der Chor durch eine starke Mimik und Spaß am Performen aus. Zur späteren Stunde fordert zimmmt das Publikum auch zum Aufstehen und Mitsingen auf. Die Besucher, viele sind seit 19 Uhr im Radialsystem, nehmen es dankend an.

Wie vielfältig das Singen im Chor ist, zeigen auch die Workshops, die ganztägig am Wochenende im Radialsystem stattfinden. Diskutiert werden etwa Urheberrechte, Konzertdesign, emotionales Singen und die Möglichkeit, sich durch das gemeinsame Singen interkulturell zu vernetzen. Das macht der Begegnungschor Berlin, der von Workshop Leiter Bastian Holze geführt wird. Seit Oktober 2015 treffen sich jeden Mittwoch Geflüchtete und Berliner zum gemeinsamen Singen. Das Repertoire des Chors ist Popmusik von 1960 bis zu den aktuellen Charts und Volksliedern aus allen Herkunftsländern der Mitglieder. Im Mittelpunkt stehen der gemeinsame Spaß und das gegenseitige Kennenlernen.

Die Veranstaltung Chor@Berlin ist vorrangig eine Vernetzung der Berliner Chorszene. Doch sie ermöglicht Außenstehenden, einen Eindruck der aktuellen Chorlandschaft zu bekommen. Die ist, wagt man sich dann unter die Experten, in der Tat vielschichtig.