: Die Spannung der stillen Passagen
SCHOSTAKOWITSCH Auch der Markt der klassischen Musik sucht nach neuen Formaten: Im Radialsystem bot am Wochenende das Mandelring-Quartett einen Schostakowitsch-Zyklus mit sämtlichen 15 Streichquartetten des Komponisten
Vermutlich hat Pheidippides nie gelebt. Der Bote, der im antiken Griechenland den Sieg der Athener gegen die Perser bei der Schlacht von Marathon fußläufig nach Athen übermittelte und anschließend zusammenbrach, dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Erfindung sein. Doch diese Legende hat – mit einigen Jahrtausenden Verspätung – neue Wirklichkeiten geschaffen: Seit 1896 zählt der Marathonlauf zu den olympischen Disziplinen.
Mittlerweile trägt fast jede größere Stadt regelmäßig Marathon-Wettkämpfe aus und Sponsoren sichern sich Tausende Quadratmeter verschwitzte Werbefläche. Jetzt hat sich auch der klassische Konzertbetrieb von diesen leistungsorientierten Großveranstaltungen inspirieren lassen. Er jagt die Musiker zwar nicht mit ihren Instrumenten über die Straßen, lässt sie aber gern mal ausgedehnte Notenstrecken am Stück zurücklegen. So gab das Konzerthaus in diesem Monat den Startschuss zu einem „Beethoven-Marathon“ quer durch das Werk des Komponisten, während die Komische Oper zum Spielzeitbeginn sämtliche Bühnenwerke Claudio Monteverdis in einen Tag stopfte – zumindest in dieser Hinsicht kann man von Glück sagen, dass nicht mehr als drei seiner Opern erhalten sind.
Ob es einem gefällt oder nicht: Die klassische Musik muss der zunehmenden, nicht nur demografisch bedingten Vergreisung ihres Publikums entgegenwirken und sieht sich gezwungen, neue Formate zu erproben. Immer öfter wird dabei die Paketlösung gewählt: Vor zwei Jahren schon musste der Cellist Alban Gerhardt im Radialsystem V sämtliche sechs Cello-Suiten Johann Sebastian Bachs an einem Abend bewältigen – was den Stücken nicht immer guttat. Jetzt setzte das Haus noch eins drauf und schickte das Mandelring-Quartett mit einem Schostakowitsch-Zyklus ins Rennen: die 15 Streichquartette des Komponisten an einem Wochenende.
Dmitri Schostakowitschs Quartette nehmen in seinem Werk eine Schlüsselstellung ein und haben sich als bedeutende Beiträge zu dieser Gattung etabliert. Und im Gegensatz etwa zu den 83 Streichquartetten Joseph Haydns sind sie in ihrem Umfang vergleichsweise überschaubar. Allerdings schrieb der Komponist, der zeitlebens im Spannungsverhältnis von sowjetischen Propagandaaufträgen und persönlicher experimenteller Tonsprache arbeitete, besonders mit seinen letzten Streichquartetten nahezu unerträglich intime Kammermusik von verzweifelter Expressivität – alles andere als Stoff zum lockeren Hintereinanderweghören.
Großer Verkaufserfolg
Statt die komplette Reihe in dicht gedrängter Folge zu präsentieren, wäre es für die Musik eigentlich angemessener, drei, maximal vier Quartette an einem Tag aufzuführen. Doch unter Marketing-Gesichtspunkten käme diese Variante wohl nicht in Betracht. Der Verkaufserfolg gibt den Veranstaltern jedenfalls recht: Am Samstag spielte das Mandelring-Quartett die ersten beiden seiner insgesamt sechs Konzerte vor vollem Haus.
An der Darbietung gab es ebenfalls kaum etwas auszusetzen. Im Anfangsdrittel des streng chronologischen Zyklus zeigten sich die Musiker bei dynamischen Stellen dramatisch zupackend, hielten in den stillen Passagen stets die Spannung und überzeugten mit gut aufeinander abgestimmtem Ensemble-Klang. Allein im Streichquartett Nr. 5 machten sich leichte Intonationsschwächen bemerkbar.
Der ästhetische Mehrwert dieser geballten Ladung Schostakowitsch bleibt allerdings Behauptung. Warum nicht lieber eine Auswahl treffen und den Zusammenhang seiner Musik mit anderen Komponisten aufzeigen? Im 5. Quartett zum Beispiel bezieht sich Schostakowitsch ausdrücklich auf seine Schülerin Galina Ustwolskaja und auf Beethoven. Weniger wäre in diesem Fall dann doch ergiebiger.
TIM CASPAR BOEHME
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