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Die WahrheitRomeo und Julia auf dem Torfe

Die Pflanzen-Saga (Teil V): Tagebuch einer botanisch und menschlich arg Verzweifelten über die Blätter, die die Welt bedeuten.

Es war der Gummibaum und nicht der Ficus Foto: ap

Zimmerpflanzen richten allerlei Chaos an, Kakteen zu Anti-aggressionstraining verdonnert, Begonie und Model-Camp-Rückkehrerin Beggy will unbedingt mit neu zugezogenem Bubikopf „Romeo und Julia“ spielen. –Teil V der großen Zimmerpflanzen-Saga.

16. Mai

Theaterproben für „Romeo und Julia“-Inszenierung der Theater-AG beginnen. Begonie Beggy nach unangenehmer Model-Camp-Erfahrung zusehends aufgeblüht, auch Aussicht auf gemeinsamen Auftritt mit Bubikopf als Romeo lässt Blätter reichlich sprießen. Anfangs natürlich Gerangel um Regie: erbittertes Gezerre zwischen Alphamännchen Ficus und Gummibaum. Daher wochenlange Verzögerung des Probenbeginns. Schließlich Einigung auf Gummibaum als Regisseur und Ficus als Regieassistent und Leiter der Marketingkampagne.

18. Mai

Verteilung der meisten Rollen verlief problemlos. Beggy als Julia und Bubikopf als Romeo gesetzt, Bruder Lorenzo ist der Venusfliegenfalle auf den Leib geschrieben. Kakteen ganz klar als Mercutio und Benvolio besetzt („Yo, bro!“). Amme, Eltern Capulet und Montague sowie Eheanwärter Paris werden von den Begonien und den Usambaras gespielt.

19. Mai

Aggressiver Tybalt allerdings lange offen: Usambaras und Begonien ohne, so Gummibaum, den „nötigen Schneid“ für provokante Rolle. Überlegung von Gummibaum, Regie und Rolle in Personalunion zu übernehmen. Ficus sehe sich für Aufgaben hinter der Bühne besser geeignet. Abstimmung: Gummibaum darf Regie führen und Rolle spielen. „Tybalt bleibt eh nicht lange am Leben.“ Beleidigter Blick des Gummibaums.

20. Mai

Pionierarbeit von Gummibaum und Ficus: Erstellung von für Pflanzen-Theater-AG geeigneter Strichfassung des Dramas. Endlich halten alle die Textbücher in den Händen. „Der Einfachheit halber“ (Gummibaum) Einstieg bei Party der Capulets mit Aufeinandertreffen von Julia und Romeo.

21. Mai

Heimlich Proben mit Beggy und Bubikopf als jungem Liebespaar beobachtet. Süß. Scheinen sich auch privat näherzukommen. Viel Getuschel.

26. Mai

Premierentermin festgesetzt: 4. Juni. Große Aufregung in gesamter Wohnung. Gummibaum: „Ist zu schaffen.“ Wohnzimmer jetzt nur noch für Pflanzen erlaubt. Für mich bis zur Premiere „No-go-Area“. Alle anderen kriegen Backstagepässe. Hmpf. Rückzug mit Laptop ins Schlafzimmer. Hinter geschlossener Wohnzimmertür eifriges Deklamieren, Sägen und Hämmern. Andere Begonien und Usambaras bei Kulissenbau und Requisite eingespannt.

27. Mai

Ständige Fotos und Updates in sozialen Netzwerken durch Marketing-Ficus. Täglich steigende Followerzahlen. Likes von kretischen Gardenien und Affenbrotbäumen aus Angola. Bonsais aus Japan und Yuccapalme aus Friedrichshafen schicken laufend Herzchen auf Instagram. Ficus-Verwandte in Malaysia verfolgen Geschehen interessiert auf Twitter. Schmachtende Zuschriften an Beggy von jungen Farnen und Schachtelhalmen aus aller Welt. Bubikopf nicht minder beliebt: Koreanische Hortensien lassen bereits T-Shirts drucken. Alle wollen zur Premiere kommen. Presseanfragen. Ideen zu Pflanzen-Theater-AGs rund um den Globus. Ficus euphorisch.

29. Mai

Streitereien hinter Wohnzimmertür. Nichts dabei gedacht: bald Premiere, Nerven liegen blank. Höre, wie Gummibaum weinerlich schreit: „Macht euern Scheiß doch alleine!“ Anschließend kommt er aus der Tür gestürzt, hätte mich fast umgerannt. Betretenes Schweigen. Hilfe angeboten. Gummibaum zuckt schniefend mit Achseln. Also ja. Meinungsverschiedenheit mit Venusfliegenfalle, die „immer alles intellektuell hinterfragen, nee, torpedieren muss“. Speziell Geschlechterrollen. Warum Julia denn keine Freundinnen oder Cousinen habe, die auf die Schwestern von Romeo losgingen („Wieso dürfen immer nur die Männer sich prügeln?“), warum sie als Frau nicht auch eine kluge Nonne spielen dürfe und so weiter. Einwand, dass Nonnen im 16. Jahrhundert keine Trauungen vornehmen durften, zähle nicht. Gummibaum zermürbt und kurz vor Aufgabe des Projekts. Tybalt könne auch von dahergelaufenem Usambaraveilchen, „ach, was sage ich: Schachtelhalm“, gespielt werden. Jetzt eh alles egal. Schmollender Rückzug. Verwirrtes Wispern im Wohnzimmer.

30. Mai

Begonie Beggy als Hauptdarstellerin zum Gummibaum geschickt. Ob er nicht doch weitermachen wolle? Man habe auf Venusfliegenfalle eingewirkt, sie verzichte bis zum Ende der Proben darauf, Shakespeares Genderrollen infrage zu stellen. Gummibaum, übernächtigt: Ob er das schriftlich haben könne? Flehentlicher Blick aus Begonienaugen. Tiefer Seufzer des Gummibaums: Okay, man könne es ja versuchen. Stürmische Umarmung, ausgiebiges Quietschen der Begonie. Befremden beim Gummibaum: Ob sie das im Model-Camp gelernt habe? Peinlich berührtes Hüsteln. Dann aber Küsschen rechts und links, Unterhaken, gemeinsames Wiedereinziehen ins Wohnzimmer. Tür zu. Applaus. Na dann.

31. Mai

Anscheinend neuer Elan im Ensemble durch temporären Gummibaumrückzug. Friedliches, konstruktives Miteinander, regelmäßige Kommuniqués des Ficus vielversprechend. Ausgiebige Turtelei zwischen Beggy und Bubikopf. Kaum noch auseinanderzubringen. Vier Tage bis zur Premiere.

1. Juni

Ficus: Ob wir Platz für zwölf koreanische Hortensien hätten? Auch die japanischen Bonsais hätten sich zur Premiere angemeldet. Aber die würde man wegen ihrer Kleinwüchsigkeit immer irgendwie unterbringen. Auf hervorragende Hotellerie in der Umgebung verwiesen. Ficus kleinlaut. Grünlilie als Bubikopfs Exmitbewohnerin solle aber Ehrenplatz bei Premiere haben. Eingewilligt. Ist ja auch kein Übernachtungsgast.

2. Juni

Zwei Tage bis zur Premiere. Generalprobe. Diverse Ärsche auf Grundeis, Kakteen bieten bei Antiaggressionstraining gelernte Entspannungsübungen an. Was man hört. Immer noch kein Zutritt zum Wohnzimmer. „Erst zur Premiere.“ Trotzdem beruhigende Nährlösung an alle verteilen lassen. Inzwischen gefühlt alle Staffeln von „Mad Men“ zweimal gesehen. Nackenschmerzen von schlechter Haltung mit Laptop im Bett.

3. Juni

Aufregung steckt alle an. Kopfloses Durcheinanderreden und Herumrennen in der ganzen Wohnung.

5. Juni

Theateraufführung an sich toll. Großartige Kostüme (einige Usambaras als Kostümbildnerinnen zu Hochform aufgelaufen), Kulissen etwas kruckelig, aber liebevoll gestaltet, kaum Textaussetzer, doch dann. Jetzt noch Schaudern beim Gedanken an das Folgende. Schlussapplaus. Großer Jubel für Beggy und Bubikopf, Johlen, tobende Massen, Fußgetrappel. Doch dann reißt sich Bubikopf die Perücke herunter. Aufschrei, dann Totenstille: Schuft sofort erkannt. Sprachlose Enttäuschung bei Pflanzengemeinschaft, hysterisches Schluchzen der Beggy, selbst Venusfliegenfalle bleibt Spucke weg. Bubikopf in Wahrheit gar kein Bubikopf, sondern – Grauen und Empörung – Enthüllungsjournalist und Taubnessel Gunter Waldaff! Auf die Frage, was das solle: Berichte über nicht artgerechte Pflanzenhaltung in Wohnräumen hätten investigativen Instinkt geweckt. Theater-AG angeblich „fantastische Möglichkeit, sich über Monate als Teil von authentischer Pflanzengemeinschaft reales Bild machen zu können“. Blabla. Ergebnis sogar weit besser als befürchtet. Ausgiebiges Buhen aller Pflanzen und meiner Wenigkeit. Drohgebärden der Kakteen, doch Waldaff verlässt Wohnung aus eigenem Antrieb.

6. Juni

Großer Katzenjammer. Alle einig: Man sei menschlich und botanisch tief enttäuscht. Einziger Trost, wie Ficus betont: Schlechte Presse bekäme man jetzt wenigstens nicht.

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