heute in Bremen: „Erdogan gibt nicht auf“
Diskussion Nikolaus Brauns spricht über Nationalismus und Islamismus in der Türkei
45, ist Historiker, Journalist und Autor. Er beschäftigt sich seit den Neunzigern mit der Geschichte der Kurden und der Türkei und schreibt für die Junge Welt.
taz: Herr Brauns, der türkische Präsident Erdogan wurde vor ein paar Jahren als Demokrat bejubelt, nun strebt er eine Präsidialherrschaft an. Wie kommt dieser Rollenwandel?
Nikolaus Brauns: Erdogan hat nie einen Hehl aus seinen Absichten gemacht. Öffentlich sagte er Ende der Neunzigerjahre, dass die Demokratie nur ein Zug sei, auf den aufgesprungen werde, um die eigenen Ziele zu erreichen. Er brauchte jedoch zunächst Rückendeckung vom Westen, um seine Politik gegen das Militär und säkulare Kemalisten durchzusetzen. Dass Erdogan kein Friedensstifter ist, lässt sich auch an diversen außenpolitischen Handlungen beweisen. Er sympathisiert offen mit der ägyptischen Muslimbruderschaft und unterstützt terroristische Gruppen aus dem Umfeld der al-Qaida gegen Assad und die Kurden.
Auch innenpolitisch ist Erdogan radikaler geworden.
Der türkische Präsident verfolgt das Ziel einer Desäkularisierung der Gesellschaft gemäß der Staatsideologie einer türkisch-islamischen Synthese. Wen das jetzige Vorgehen erstaunt, der hat nicht richtig hingeschaut. Es gab schon ab 2009 Massenverhaftungen von kurdischen Bürgermeistern, Gewerkschaftlern und Aktivisten. Erdogan schaltet seit Jahren systematisch die kurdische Opposition aus.
Warum wird Erdogans Unterdrückung der Bevölkerung international toleriert?
Dem Westen geht es nicht um Menschenrechte, sondern um wirtschaftliche Interessen. Die EU erwartet Stabilität und hat kein Problem damit, wenn mit harter Hand regiert wird. Außerdem gilt die Türkei als Energieknotenpunkt und Sprungbrett zum Nahen Osten. Durch die Flüchtlingsbewegungen ist die türkische Position noch stärker geworden. Erdogan ist quasi der Türsteher nach Europa geworden, indem er die Flüchtlinge im Land behält. Für die EU ist das eine enorme Erleichterung und so wird zum Krieg gegen die Kurden geschwiegen.
Die Zahl der türkischen Flüchtlinge steigt – ist das nicht paradox?
Es ist kurzsichtig von der EU, den Flüchtlingsdeal mit Erdogan einzugehen, der selbst eine halbe Million neuer Flüchtlinge im eigenen Land produziert hat. Kurdische Politiker, Gülen-Anhänger und Journalisten verlassen das Land aus Angst vor Verfolgung.
Wie geht es für Erdogan weiter, wenn die Bevölkerung gegen eine Verfassungsänderung stimmt?
Aufgeben wird er sicher nicht. Durch den aktuellen Ausnahmezustand kann er schon jetzt als Alleinherrscher agieren. Er würde vermutlich den Ausnahmezustand verlängern und später durch Neuwahlen versuchen, die Verfassungsänderung durch eine Mehrheit im Parlament zu erreichen. Interview: vre
Vortrag und Diskussion mit Nikolaus Brauns und Kemal Bozay, 19 Uhr, Gewerkschaftshaus DGB
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