Europaküche Der Kontinent war kulinarisch schon mal offener. Heute muss alles um die Ecke eingekauft sein. Wer Produkte von weither verwendet, macht sich unbeliebt. Dabei passen sizilianische Orangen so gut zur donauschwäbischen Nusspitte!
: Was für ein
Regionalwahn

Von Philipp Mausshardt
(Text) und Juliane Pieper (Illustration)

Die Türen seines schönen Bundeslandes würde der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl am liebsten von innen schließen. Dabei sind vor nicht allzu langer Zeit von hier die Menschen in Massen ausgewandert.

Süddeutsche Wirtschaftsflüchtlinge verließen im 18. und 19. Jahrhundert ihre Heimat in alle Himmelsrichtungen, viele in die USA, noch mehr allerdings mit Booten die Donau hinunter in Gegenden, von denen sie bis dahin noch nie etwas gehört hatten: Bessarabien, Podolien, Bukowina, Banat oder bis in die Batschka in der Pannonischen Tiefebene. Es waren unsichere Grenzregionen, und man hoffte, die neuen Siedler würden die osmanischen Invasionsgelüste ein wenig dämpfen.

Die „Donauschwaben“, wie man sie nannte (dabei waren längst nicht alle von ihnen Schwaben), sind bis heute auf ihre Geschichte stolz, die viel mit Essen zu tun hat. Die Nachbarn der Donauschwaben waren orthodoxe Serben, katholische Ungarn und muslimische Bosnier. Das Zusammenleben funktionierte deshalb lange gut, weil jede ethnische Gruppe etwas auf den Tisch stellen konnte, was die anderen nicht kannten. Wer also abwechslungsreich essen und trinken wollte, musste zu seinen Nachbarn freundlich sein.

Mit dem Zweiten Weltkrieg ging dann aber doch einiges gehörig schief, und die Donauschwaben kamen weniger freiwillig als zwangsweise wieder zurück in das Land ihrer Vorfahren. Ihr Dialekt ging im Laufe der Jahre verloren, aber in ihren Rezepten hat sich noch etwas von dem multikulturellen Geist ihrer Geschichte erhalten. Jetzt zum Winter essen viele donauschwäbische Familien gerne eine Nusspitte, die schon im Namen (pide = türkisches Fladenbrot) die nachbarschaftliche Verbindung zu Muslimen verrät.

Kulinarisch war Europa also schon einmal etwas offener, als es heute ist. Doch im Moment haben die Vertreter einer streng auf die eigene Region bezogenen Küche überall die Oberhand. In Brandenburg soll es, bitte schön, nur Brandenburger Rüben geben und in Baden bitte keinen Ziegenkäse aus Mecklenburg-Vorpommern.

Der Regionalwahnsinn ist in vollem Gange, und es sieht nicht so aus, als könne ihn noch jemand stoppen. Wehe, ein Gastwirt schreibt nicht in seine Speisekarte, dass alle seine Produkte aus der unmittelbaren Umgebung kommen! Er macht sich möglicherweise eines Transportverbrechens von kanadischem Wildlachs oder sizilianischen Orangen schuldig. Die Kundschaft, auch wenn sie gerade mit einem Porsche Cayenne vorgefahren ist, möchte im Edelrestaurant mit gutem Gewissen CO2-neutral speisen.

Für den Spittenteig: Aus 300 g Mehl, 200 g Butter, 70 g Zucker und einem Ei einen Mürbteig machen und kaltstellen. Auf Backpapier 60 Prozent des Teigs auswellen und mit dem Papier auf ein hohes Backblech legen. Den Rest ebenfalls auf einem Backpapier in Blechgröße auswellen.


Für die Spittenfülle: 6 Eiweiß mit 200 g Zucker, einer Packung Vanillezucker und dem Saft einer Zitrone zu steifem Schnee schlagen. 6 Eigelbe dazugeben und weiterschlagen. Zuletzt 250 g fein gemahlene Nüsse und 2 bis 3 Rippen geraspelte Blockschokolade unterheben.

Zubereitung der Spitten: Die Masse auf den Teig auf dem Blech geben. Den zweiten Teig vorsichtig auf die Nüsse legen und das Papier abziehen. Bei 180 Grad ca. 40 Minuten backen, erkalten lassen und auf dem Blech in Würfel von ca. 6 cm Kantenlänge schneiden. Vor dem Essen mit Puderzucker bestreuen.

Für den Orangensalat: Vier Navel-Orangen aus Sizilien schälen und von allen weißen Häuten entfernen, dann in dünne Scheiben schneiden. Eine weitere Orange auspressen und Saft beiseitestellen. Die Fruchtkapseln eines Granatpafels über die Orangenscheiben streuen. Zum Orangensaft 2 EL Zitronensaft ­geben, etwas zuckern, dann einen 1/2 TL Kardamom dazugeben, gut verrühren und über den Salat geben.

Das ziemlich einzige „europäische Kochbuch“ ist übrigens in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts erschienen. Da hat sich Europa gerade erst neu entdeckt und war noch ganz in sich verliebt. Es wird heute für 3.57 Euro bei Amazon gebraucht verramscht. Heute würde auf dem Buchmarkt ein Kochbuch über Omelettes aus Nordflandern wahrscheinlich mehr Käufer finden als ein Sammelband europäischer Kochkunst. Europa taugt gerade nicht als Appetitanreger.

Mich regt das auf. Indem man auf das Eigene pocht, macht man das Fremde schlecht. Mir doch egal, woher der Käse kommt – Hauptsache, er schmeckt. Die Donauschwaben haben es richtig gemacht: gleich mal das Rezeptbuch vom Nachbarn geklaut und mit den eigenen Rezepten vermischt. So ist die Nusspitte ein wunderbares Beispiel für die kulinarische Bewusstseinserweiterung jenseits aller Grenzen. Wenn man da weiterdenkt, eröffnet sich ein völlig neuer Geschmackshorizont.

Heute würde ich diesen orientalisch-abendländischen Nusskuchen allerdings noch um eine Variante mit Orangensalat erweitern, um das etwas staubige Schlucken zu erleichtern. Ungefähr zur selben Jahreszeit, in der die Donauschwaben ihre Nusspitten servieren, reifen auf Sizilien die weltbesten Orangen. Das kann kein Zufall sein.

Die Genussseite: Philipp Maußhardt vereinigt auf dieser Seite jeden Monat die Küchen Europas. Außerdem im Wechsel: taz-AutorInnen machen aus Müll schöne Dinge oder treffen sich mit Flüchtlingen zum gemeinsamen Kochen, und Jörn Kabisch befragt Praktiker des Kochens.