Gesicht, Fassade, Maske

Ihre Werke erhellen sich gegenseitig: Shirin Neshat und Katharina Sieverding, beide in Berlin zu sehen

VON BRIGITTE WERNEBURG

Eines Tages erscheinen der Prostituierten Sarrinkolah in Schahrnusch Parsipurs Roman „Frauen ohne Männer“ ihre Freier plötzlich als kopflose Kreaturen. Shirin Neshat allerdings sieht sie in „Zarin“ (2005) als Männer ohne Gesicht. „Zarin“ und „Mahdokht“ (2004) sind die inzwischen fertig gestellten Episoden ihrer neuen, fünfteiligen Filminstallation in Spielfilmlänge, der Parsipurs Novelle zugrunde liegt. Im Hamburger Bahnhof erleben die zwei Filme der in New York lebenden iranischen Künstlerin jetzt ihre Welturaufführung.

Merkwürdigerweise fällt die Verschiebung just in dem Moment auf, in dem man Katharina Sieverdings Selbstporträts gegenübersteht. Denn in der Ausstellung der Berliner Kunst-Werke, mit Arbeiten aus den Jahren 1969 bis 2003, fällt auf, dass Sieverding ihr Augenmerk auf das Gesicht und nicht den Kopf lenkt.

Nicht der Schädel, der das Gehirn schützt und seine räumliche Ausdehnung markiert, ist bedeutsam; und damit auch nicht die Frage nach den Gedanken, für die dieser Raum geschaffen wurde, wie Francis Picabia einmal vermutete: damit sie ihre Richtung ändern können. Bedeutsam ist das Gesicht, das die individuelle Persönlichkeit des Menschen ausmacht, zugleich aber für das öffentliche Leben inszenierte Maske ist.

Berlin taumelte zuletzt im Kunstrausch. Während des Art Forum, das samt drei Nebenmessen zu Ende ging, eröffneten Galerien aus London, Los Angeles und Hamburg Dependancen in der Hauptstadt. Auch das Auktionshaus Phillips de Pury & Co. hatte seinen Hauptstadtauftritt mit „Highlights zeitgenössischer Kunst aus der Sammlung der Fürstin Gloria von Thurn & Taxis“, die am 7. November in New York versteigert werden sollen. Der Martin-Gropius-Bau, das Haus der Kulturen der Welt, die Kunst-Werke und die Staatlichen Museen, alle trumpften sie in den letzten Tagen mit großen Eröffnungen auf: für Freunde des Glam und der heißen Partys der ultimative Kick, pressetechnisch aber ein Desaster. Man kommt den Ereignissen nicht mehr hinterher.

Ein Glück also, mit Shirin Neshat und Katharina Sieverding zwei Künstlerinnen zu begegnen, deren Werke sich gegenseitig zu erhellen vermögen. Strukturelle Gemeinsamkeiten fallen auf: die politische Grundierung ihres Werks, in der Frage nach der Rolle der Frau und der Künstlerin in einer männlich beherrschten Kultur oder in der Frage nach der Rolle, die Schönheit und Gewalt in ihr spielen; und schließlich die Gemeinsamkeit im Medium der großen Leinwand und der Rolle des Raums, durch die beider Werk wesentlich bestimmt ist.

Ist Katharina Sieverdings Gesicht wirklich ihr Gesicht? Stoisch im Ausdruck, fremd in seiner Schönheit, scheint es eher ein Brand zu sein, der „Achtung, Turbulenzen“ signalisiert. „Deutschland wird deutscher“, ihre mit den Kunst-Werken entwickelte Plakataktion gegen Fremdenfeindlichkeit von 1993, steht paradigmatisch dafür. Der Außenraum gebietet freilich das monumentale Format. Schwer zu erkennen, welche auch ästhetischen Turbulenzen dieses Format im Innenraum, im Kunstraum, auszulösen vermag. Goldglänzend, tiefrot entflammt, schwarz solarisierend drohen ihre seriellen Gesichter vierfach, achtfach, verführen sie achtundzwanzigfach. Vor allem aber zeigen sie den Raum als integralen Teil von Sieverdings künstlerischer Praxis. Vor dem „Stauffenbergblock“ (1969) wie ihren anderen großen Gesichtern gerät man in Bewegung. Die jeweilige Position zum Bild wird zur entscheidenden Grundlage der Interpretation: die Totenmaske, das agitatorische Anführerinnengesicht, die herrische Miene einer Schönheit, die die narzisstische Feier ihrer selbst zur Kunst erklärt, das ambivalent-androgyne melancholische Mannfraugesicht, all diese Gesichter sind perspektivegebunden.

Shirin Neshats zuvor gesehene Doppelprojektion „Rapture“ (1999) begünstigt diese Wahrnehmung. Sie schafft eine Situation, die den Zuschauer auf seinen – auch ideologischen – Standort aufmerksam macht. Der Hintergrund, vor dem er den Film anschaut, ist immer der Teil von „Rapture“, den er gerade nicht sieht, was bedeutet: die Wahrnehmung geschieht erst einmal vor dem eigenen kulturellen Hintergrund. Ihre neue Arbeit allerdings bricht radikal mit diesem Stil. Mit ihr befreit sich Shirin Neshat aus der Sackgasse einer Ikonografie, die stereotyp zu werden drohte. Gestrichen sind das Schwarzweiß und die Symmetrie. Es gibt keine gegenübergestellten Doppelprojektionen mehr, keine in dialektischer Opposition postierten Männer und Frauen. Neshats Ziel ist nun die vielschichtige Erzählung. Sie ist in der Stadt situiert, in Farbe gedreht und überrascht mit Dialogen. Mit den populären Formen des Kinos antwortet Neshat auf Parsipurs literarischen Stil eines magischen Realismus. Und die Kunst ihrer Antwort liegt deutlich im Detail. Dafür sensibilisieren wiederum die Close-ups von Katharina Sieverding.

Ohne Sieverding hätte man Neshats Abweichen von der Romanvorlage dem Wechsel von der Literatur zum Film, von der Sprache zum Bild und deren unterschiedlichen Strategien zugeschrieben, unsere Imagination anzuregen. Wäre der nackte Hals im Film nicht zu drastisch erschienen? Mit Sieverding wird jedoch deutlich, dass es darum nicht geht. Die Gedanken der Männer in Parsipurs Welt wechseln nicht einfach ihre Richtung. Daher lässt Neshat diese Männer nicht ihren Kopf, sondern ihr Gesicht verlieren. Sie zeigt es nicht eine leere Fläche, sondern als nach innen gestülpt – verkniffen. Während Neshat vom Trauma der Prostituierten erzählt, geht sie über diese Schilderung hinaus und entblößt das politische Gesicht der Männer, das gewiss keine Tabula rasa ist.

Katharina Sieverding: „Close Up“, bis 27. 11., Katalog 39,95 €; Shirin Neshat, bis 4. 12., Katalog (Steidl Verlag) 20 €