Berliner Szenen: In der U-Bahn
Mehr Tagebuch
„Schreiben tut gut für die Seele“, sagt plötzlich die Frau, die neben mir in der U-Bahn sitzt. Ich hatte nicht gemerkt, dass sie mich beobachtete. „Ich habe früher auch Tagebücher geführt, als ich jünger war“, sagt sie. Dabei bearbeite ich die Notizen eines Interviews, möchte sie aber nicht enttäuschen und sage nichts.
Ich lächle sie nur an und frage, warum sie keine Tagebücher mehr schreibt. „Ich weiß es nicht genau. Früher hat man mehr geschrieben, aber jetzt mit dem Internet hat man das nicht mehr nötig. Aber gut, dass Sie das machen!“ Fast bedanke ich mich für das Kompliment, doch ich habe keine Zeit irgendwas zu sagen, denn sie redet einfach weiter. „Papier ist nicht mehr so beliebt wie es war. Briefe hat man auch geschrieben, nicht wahr? Nicht E-Mails, Briefen!“ Ab und zu schreibe ich einen Brief, sage ich. „Schön!“, sagt sie und strahlt.
Sie trägt einen Blumenstrauß auf dem Schoß, kurze graue Haare, einen dicken karierten Mantel und Reiterstiefel. Sie riecht, als ob sie gerade einen Mittagsglühwein auf dem Weihnachtmarkt getrunken hätte. Weil sie schweigt, schweige ich auch und kehre zu mein Notizbuch zurück. Dann spricht sie wieder los. „Heute Abend schlafe in einem Vier-Sterne-Hotel“, sagt sie.
Ich versuche nachzuvollziehen wie sie dahin kam. Ob ich irgendwas über ein Hotel geschrieben habe und sie es geschafft hat, meine Schrift zu lesen? Vielleicht hatte sie einfach Lust, es loszuwerden, denke ich. Man schläft nicht jeden Tag in einem Luxushotel. „Ich bin Berlinerin, aber heute Abend kommt mein Freund, deswegen.“ – „Ich verstehe“, lüge ich.
Kurz vor der Haltestelle Wilmersdorfer Straße geht sie zur Tür. Sie dreht sich zu mir. „Schönen Tag noch und frohe Weihnachten!“, sagt sie. „Danke!“, sage ich. „Gleichfalls!“, sagt sie und steigt aus. Luciana Ferrando
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