: Das spirituelle Vakuum füllen
KIRCHE Die Schau „Architektur des VII. Tages“ im Polnischen Institut liefert Wissenswertes zum Gotteshausboom in Polen
von Ronald Berg
Die Polen ticken anders – anders als, sagen wir, die Deutschen. Das gilt insbesondere in Bezug der Polen zu Religion und Kirche. Noch immer sind fast 90 Prozent der Polen in der Kirche, in der römisch-katholischen natürlich. Ungefähr die Hälfte der Polen, also ungefähr 19 Millionen Menschen, gehen regelmäßig zum Gottesdienst. Da wundert es nicht, dass der Kirchenbau in Polen eine ganz andere Bedeutung hat als etwa in Deutschland.
Ehrenamtliche Arbeit
Im Polnischen Institut Berlin kann man jetzt eine Grafik sehen zur Anzahl der im Bau befindlichen Kirchen in Polen seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Das Diagramm zeigt einen Höhepunkt beim Kirchenbau ungefähr in den Jahren von 1985 bis 1995, zu jener Zeit, als es mit dem Kommunismus zu Ende ging. Die Grafik ist Teil einer Austellung des Polnischen Instituts zum Kirchenbau in Polen seit 1945. „Architektur des VII. Tages“, der Titel der Schau, bezieht sich auf die Tatsache, dass die exakt 3779 während dieses Zeitraums errichteten Kirchen in der Regel von Gemeindemitgliedern selbst in der Freizeit errichtet wurden: Am Sonnabend ging es auf die Kirchenbaustelle, am Sonntag wurde gebetet.
Kirchenbau in Polen war – zumindest während der Zeit des Kommunismus – genuiner Ausdruck von Opposition gegen den Staat. Viele der Kirchen wurden daher gleichsam illegal errichtet, manchmal staatlich geduldet, oft behördlicherseits behindert, vor allem aber erst durch Eigenarbeit der Gemeindemitglieder ermöglicht. Denn bei der Realisierung der vielen offiziell geplanten Plattenbausiedlungen wurde auf Kirchen gänzlich verzichtet. Das „spirituelle Vakuum“, so das polnische Kuratoren-Kollektiv aus zwei Architektinnen und einem Stadtplaner, wurde „Bottom-up“ durch Eigeninitiative und Eigenfinanzierung der Gläubigen gefüllt. Die so entstandenen riesigen Kirchenbauten brauchten deshalb oft Jahrzehnte bis zu ihrer Vollendung.
Der Kirchenbau stellte auch für die entwerfenden Architekten eine besondere Herausforderung dar. Statt industriellen Bauens mit der Platte wurden die Kirchen in freien Formen geplant. Manches unter den Dutzenden von Fotobeispielen in der Ausstellung erinnert stark an die Nierentischästhetik der fünfziger Jahre, auch wenn die Bauten tatsächlich viel später begonnen wurden. Die „Kreuzerhöhung-und-Muttergottes-Heilung-der-Kranken-Kirche in Katowice/Kattowitz dauerte von 1979 bis 1993 bis zur Fertigstellung. Wie bei allen Beispielen der Ausstellung ist das Riesenbauwerk für eine Gemeinde von 17.000 Mitgliedern in zwei fotografischen Ansichten einmal direkt von oben und einmal schräg im Kontext des urbanen Raums wiedergegeben. Eine Flugdrohne machte es möglich. Das Kattowitzer Beispiel steht typischerweise ziemlich isoliert vom Stadtraum und ist seinen runden Backsteinmauern am ehesten mit „postmodern“ zu beschreiben. Ästhetisch war man im polnischen Kirchenbau wenig festgelegt. Es kommen in der Ausstellung eine Anzahl sternförmiger Kirchen vor wie auch traditionelle, ja historistische Formen mit Kreuzgrundriss, Säulenportikus, Kuppel und Turm wie in dem Dorf Lichen-Stary und seinem gigantischen Marienheiligtum, das jährlich 1,5 Millionen Pilger anzieht. Die 2004 nach zehn Jahren fertiggestellte Basilika wurde zur größten Kirche Polens.
Imposante Dimensionen
Bei solch imposanten Dimensionen ist es erstaunlich zu hören, dass die Kuratoren von einer Halbierung polnischer Kirchgänger in den nächsten 30 Jahren ausgehen. Damit ergeben sich ganz neue Probleme mit den vielen dann überdimensionierten Sakralbauten aus jüngerer Vergangenheit. Es stellt sich die Frage nach Umfunktionierung von Kirchenraum. Und damit würden die Polen dann doch den deutschen Verhältnissen näher rücken.
Die Ausstellung hat deshalb als eine Art von Zukunftsvision ein deutsches Beispiel integriert. Es handelt sich um den Refo-Campus in Berlin-Moabit. Die kaum noch genutzte Reformationskirche und deren Gemeindebauten an der Beusselstraße wurde vom Berliner Zentrum für Kunst und Urbanistik (ZK/U) exemplarisch zum Zwecke einer Umnutzung analysiert, wobei die diversen neuen Aktivitäten vom Wohnen bis zum Theaterspielen ähnlich finanziert und organisiert werden sollten wie beim Kirchenbau im kommunistischen Polen – nur eben mit umgekehrten Vorzeichen. Statt ein spirituelles Vakkuum zu füllen, geht es in Moabit eher darum, materielle Defizite beim Wohnraum oder fehlende sozialen Kontakte im Kiez zu kompensieren. Die Ausstellung im Polnischen Institut zeigt also, welch seltsam sich kreuzende Wege das Lernen vom Nachbarn gehen kann.
Polnisches Institut Berlin, Burgstr. 27, bis 28. 2.; Di.–Fr. 10–18 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen