Big Data und Instagram: Mein aufregendes Leben
Was sind die digitalen Spuren der Selbstdarstellung? Der Datenjournalist Tin Fischer hat sich auf Instagram umgeschaut.
„Eigentlich ist jeder für sich auf dem Jakobsweg unterwegs“, sagt Tin Fischer. Trotzdem könne man die beliebte Pilgertour in zehn Posen zerlegen – zumindest wie sie auf der Social-Media-Plattform Instagram dokumentiert wird. Datenjournalist Fischer hat Netzphänomene wie dieses in seinem Buch „Nach dem Wochenende bin ich erst mal #krank“ in bunten Grafiken visualisiert. Selfie vor dem Santiago-de-Compostela-Schild, ein Street-Art-Foto in Logroño, ein Tintenfischteller in Melide … „Das Reisen wurde instagrammisiert“, sagt Fischer. Wohin es Individualreisende zieht, lässt sich aus den Daten, die wir als Instagram-Nutzer freiwillig ins Netz stellen, herauslesen.
Für seine Analysen hat der Historiker mit seinem Team den digitalen Spuren der Selbstdarstellung gewidmet – von #anchor-Tattoos bis #zen: 208 Seiten mit 90 Grafiken umfasst das Instagram-Buch. Die Datensätze, auf die sie sich beziehen, gehören zu Fotos, die überwiegend von 2013 bis 2015 auf der Social-Media-Plattform gepostet worden sind.
„Mein Kollege David Goldwich hat ein Programm gebaut, mit dem man Metadaten, aber auch Bilder runterladen kann.“ Möglich war das über die API-Datenschnittstelle, eine Art Lieferanteneingang zu sozialen Netzwerken. Über diesen konnten die Journalisten Informationen wie Aufnahmezeitpunkt, Nutzer, Anzahl der Likes, Kommentare, Bildunterschriften, Geodaten oder Filter beziehen. Ihr Download-Programm „Goldfischer“ befüllt damit eine Datenbank ähnlich einer Excel-Tabelle. Mittlerweile wurde der API-Zugang so weit eingeschränkt, dass Downloads in dieser Größenordnung nicht mehr möglich sind. Heute müssten Tools wie das von Fischer erst eine Prüfung von Instagram durchlaufen.
„Bisher hat sich kaum jemand für Instagram-Metadaten interessiert“, sagt Fischer. „Datenjournalisten nehmen das Netzwerk nicht besonders ernst.“ Dabei laden 500 Millionen Nutzer täglich 95 Millionen Bilder hoch. 90 Prozent der Nutzer sind unter 35 Jahren alt. Wenn man sich näher mit den Bildern und Hashtags beschäftigt, lässt sich erahnen, wie sich gesellschaftliche Werte von jungen Menschen verändern: Aus „mein Auto, mein Haus, mein Boot“ ist „mein Outfit, mein Essen, mein aufregendes Leben auf Reisen“ geworden.
Im Rausch der Aufmerksamkeit werden seit 2010 Fotos hochgeladen, kommentiert und gelikt. Fischer sieht die Plattform als Oberfläche, in der die glänzende Fassade präsentiert wird, dagegen ungeeignet für Diskussionen. „Instagram ist kein politisches Medium“, sagt der Schweizer. Politik könne man nicht in Bildern ausdrücken. Dennoch ist die Plattform etwa in China gesperrt, da 2014 über sie Bilder der Proteste in Hongkong geteilt wurden. Und auch für alltagspolitische Kampagnen wird Instagram genutzt, etwa „Free the Nippel“, eine Bewegung, die für mehr Gleichberechtigung einsteht, indem sie aufruft, weibliche Brüste in sozialen Netzwerken zu zeigen, die im Gegensatz zu Aufnahmen von männlichen Oberkörpern von Facebook und Instagram zensiert werden. Allerdings ist Fischers Analyse in diesem Fall ernüchternd: #freethenippels, zunächst feministisch gedacht, sei letztendlich zum „Erotik-Sammelbecken“ geworden.
Tin Fischer, David Goldwich, Ole Häntzschel: „Nach dem Wochenende bin ich erst mal #krank“. Piper Verlag, München 2016, 208 Seiten, 12 Euro
Als gesellschaftliches Analysetool findet Fischer Instagram dennoch aufschlussreich, etwa wenn man den Begriff „protest“ sucht: „Die Knicke der Kurve nach oben sind interessant, denn sie sind fast immer mit einem Ereignis verbunden“, sagt Fischer. Der Selfie-Boom beginnt im Herbst 2012, als plötzlich Teenager massenhaft ihren Idolen Lady Gaga und Justin Bieber mit Selbstporträts nacheifern. Im Februar 2013 postet die Sängerin Madonna ihr erstes Selfie auf Instagram. Daraufhin erscheinen in der Presse Berichte über den neuen Kult. Kurz darauf geht ein Selfie mit dem Papst sowie das eines Astronauten um die Welt: Das Genre ist geboren. Zum Ende des Jahres folgt der Ritterschlag, als das Oxford English Dictionary „Selfie“ zum Wort des Jahres kürt.
In Fischers Instagram-Buch erfahren wir von Vorlieben, Selbstinszenierungen und Korrelationen, nach denen man nicht unbedingt suchen würde – wie sich Hipster von Metallern in sozialen Netzwerken unterscheiden oder dass Fotos von Regenbogendonuts oder Aftersex-Selfies kursieren. Herausgefunden hat Fischer auch, dass neue Bildgenres wie „Foodporn“, aber auch Fotos von Selbstverletzung entstanden sind.
Wie einen Spiegel der Ironie hält Fischer zu Grafiken gewordene Kuriositäten vor unsere Gesichter: Von den beliebtesten Instagram-Tattoos zu den dunklen Seiten. Denn auch Depressionen sind Teil des Netzwerks. „Meine Großmutter hätte andere Bilder gepostet“, sagt er. Sicher weniger Essen und dafür mehr, wie ordentlich, fleißig und pünktlich sie war. „Nach dem Wochenende bin ich erst mal #krank“ zeigt, was durch Datenanalyse der breiten Masse alles sichtbar werden kann. Aussagen über das Heute lassen sich treffen, doch dem Buch entgehen Subkulturen, da sie für ihre Analysen auf große Datensätze abgezielt haben, um im Hashtag-Gewimmel Rauschen von Signal zu unterscheiden.
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