piwik no script img

„Das Unbekannte umarmen“

Porträt Der US-Amerikaner Richard Siegal ist Perfektionist und Menschenfreund. Er war in den letzten Jahren verantwortlich für elektrisierende Ballettabende in New York, Marseille und an der Ruhr. In München gründet er ein neues Ensemble: das Ballet of Difference

Richard Siegal ist auch ein guter Beobachter seiner Tänzer bei jeder Probe Foto: Denislav Kanev

von Sabine Leucht

Diese Beine zwischen weißen Socken und Faltenrock sind unvorstellbar lang. Sie gehören Corey Scott-Gilbert, einem riesigen Schwarzen, der auch beim Cirque du Soleil oder bei Sasha Waltz schon auf großen Bühnen stand. Beim Münchner Medienkunst-Festival „Noise ­Signal Silence“ Ende Oktober aber musste man den tanzenden Hünen suchen.

In vier Räumen des Muffatwerks saßen DJs des Labels Raster-Noton an ihren Pulten, pulsierte rhythmisiertes Licht zum Ambient-Sound auf eine Leinwand oder durch Glasplatten. Und nur, wer zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort war, erwischte einen Schnipsel der von Richard Siegal eigens für diesen Anlass choreografierten Guerilla-Dance-Performance „Soli for Corey“: Variationen aus Kostümexzentrik, weit ausgreifenden Bewegungen und Sprüngen, klassisch gestrecktem Körper, zierlichem Frauenschritt und vogelwilden Windmühlenarmen, die Scott-Gilbert mit eher ausgeatmeten als gesprochenen Kommandos selbst ansagte. Und dabei so nahe an einem vorüberfegte, dass man ihn hätte anfassen können.

Gegen drei Uhr morgens, erfährt man später, ließ sich „Corey“ vor rund 800 hartgesottenen Technofans auch auf der großen Bühne sehen. Und so setzte sich Siegals Ballet of Difference gleich bei seinem ersten öffentlichen Termin auf die „social agenda“ von Menschen, bei denen Ballett in der Regel eher nicht vorkommt.

Der US-amerikanische Tänzer und Choreograf ist als Artist-in-Residence des Muffatwerks der Stadt München schon seit 2008 verbunden, 2013 bekam er den Münchner Tanzpreis und war kürzlich sogar als Direktor des Bayerischen Staatsballetts im Gespräch. Im Frühjahr 2016 wurde bekannt, dass er eine besondere freie Gruppe gründen wolle: „Richard Siegal/Ballet of Difference“ erhielt vom Münchner Kulturreferat eine Dreijahresförderung über 90.000 Euro und wird im Mai 2017 das renommierte DANCE-Festival eröffnen.

Kostüme mit Griffen

Richard Siegal ist Brückenbauer zwischen Hoch- und Subkultur – und will in der neuen Compagnie das Individuum mit seinen Ecken und Kanten feiern. Immer schon schickte er gerne „Typen“ auf die Bühne, attackiert mit akademischem Spitzentanz die Schwerkraft und treibt ehrwürdigen Balletttempeln mit stampfenden Beats und laut kreischenden Klängen, etwa von Carsten Nicolai alias Alva Noto (der auch zusammen mit R. Sakamoto die Musik für Iñárritus Spielfilm „The Revenant“ schrieb), die Heimeligkeit aus. Seine Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Komponisten, bildenden Künstlern, Programmierern und Modeschöpfern ist ebenso einzigartig wie es seine futuristisch anmutende Lichtregie und die oft halsbrecherischen Schrittkombinationen, Spagatsprünge und Turbo-Pirouetten seiner Tänzer sind, die am Körper ungewohnte Winkel entdecken.

Bei der Münchner Ballettwoche 2015 stellte das Staatsballett drei seiner Stücke als „Portrait Richard Siegal“ in eine Reihe mit choreografischen Monografien, etwa eines Hans von Manen oder Jiří Kylián. Eines davon ist das am Ballet National de Marseille entstandene „Metric Dozen“, das mit seinen mathematisch programmierten Gruppenverschiebungen direkt aus der urbanen Zukunft zu kommen scheint, aber auch mit Menschlichkeit und Witz durchblutet ist. Das Eingangsstück „Unitxt“ aber ist laut Siegal einer von zwei Grundpfeilern, auf dem sein Ballet of Difference steht: In diesem elektrisierenden Stück mit viel Unterleib, sirrenden Mikrobewegungen und mitreißender Sexyness arbeitete er erstmals mit einem Industriedesigner zusammen, der für die Tänzer objektartige Kostüme mit Griffen erfunden hat, was vor allem den Duetten einen enormen Drive gibt.

Die zweite Säule ist „My Generation“ von 2015, das sich mit bunten, globalisierten Identitäten auseinandersetzt und von der New York Times hoch gelobt wurde. Für beide Stücke – die nach der Aneignung durch das neue Ensemble idealerweise „mehr sie selbst“ werden sollen – und mindestens zwei weitere Uraufführungen stehen schon Gastspieltermine fest, bereits vor den ersten Proben.

Ehemalige Solisten des Bayerischen Staatsballetts sind unter den 14 Tänzern der neuen Compagnie, die in der aktuellen, konservativeren Ägide von Igor Zelensky keinen Platz mehr für sich sahen. Weitere kommen aus dem mittlerweile aufgelösten Cedar Lake Contemporary Ballet und anderen renommierten Institutionen, aber auch aus der internationalen freien Szene. Ausgewählt hat Siegal unter rund 70 eingeladenen Tänzern solche mit „brillanter klassischer und zeitgenössischer Technik“, ausgeprägter Persönlichkeit und wollte eine möglichst große Diversität in Alter, ethischem und kulturellem Hintergrund, ästhetischer Sozialisation, sexueller Orientierung und Physiognomie.

Diese Compagnie, sagt er, „soll einen Kontrapunkt bilden zu dem, was wir von einer Ballet Company erwarten. Ich liebe, was diese Institutionen tun. Aber indem sie den klassischen Kanon konservieren, lassen sie die gesellschaftliche Ideologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts immer wieder neu aufleben. Mitsamt dem Ideal der Uniformität. Doch die Dinge haben sich geändert. In der postindustriellen digitalisierten Gesellschaft stehen wir nicht mehr am Fließband wie Charlie Chaplin in „Modern Times“.“

Seine Neugründung beschreibt er als eine Reaktion auf unser zwiespältiges Verhältnis zum Individuum: „Wir wollen Individualität, Eigenverantwortung, Brüche – und gleichzeitig wächst die Angst davor und es erstarken die reaktionären Kräfte. Ich bin davon überzeugt, dass die Kunstform Ballett mit ihrer Energie auch gesellschaftliche Widersprüche erfahrbar und die Tatsache beschreibbar machen kann, dass wir heute freier sind und mehr Möglichkeiten haben als je zuvor in der menschlichen Geschichte. Zumindest möchte ich einen Diskurs darüber provozieren. Denn keiner hat das Monopol, zu bestimmen, was Ballett ist. Je mehr Vorschläge es dazu gibt, desto besser.“

Richard Siegal will in der neuen Compagnie das Individuum mit seinen Ecken und Kanten feiern

Gängige Phrasen zerlegen

Richard Siegal sagt das einen Tag, nachdem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde. Der stets freundliche Mann wirkt ein wenig gedrückt, wenn auch nicht entmutigt: „Jetzt mittels Kunst Widerstand zu leisten ist das Mindeste, was ich tun kann.“ Nicht viel, räumt er ein, weil man ja nicht direkt ins politische Geschehen eingreifen könne. Schaut man dem Endvierziger hingegen dabei zu, wie er ins Probengeschehen eingreift, geht einem das Herz auf.

Als Beobachter sieht er mit seiner unvermeidlichen Mütze auf dem Kopf wie ein neugieriger Junge aus, um gleich darauf behutsam, aber beharrlich an der Intensität und Phrasierung jeder Bewegung zu schrauben. Gerade studiert er mit vier Tänzern der Junior Company des Staatsballetts eine Etüde zu George Gershwins „3 Preludes“ ein, die er ganz altmodisch zu bereits existierender Musik geschrieben hat. „Es ist fast so“, sagt er beinahe entschuldigend, „als stamme das Stück von einem anderen Choreografen. Aber ich war schon immer fasziniert von Synkopisierung und afrokaribischen Rhythmen.“ Und wenn Siegal den „Juniors“ vortanzt, kann man sehen, was der ehemalige Solist im Frankfurter Ensemble William Forsythe’noch immer für ein exzellenter Tänzer ist – aber auch, wie klar er denkt und wie schön er fühlt.

Siegal zerlegt gängige Ballett- und Bewegungsphrasen und setzt sie neu zusammen. Mit seiner Produktionsplattform „The Bakery“ entwickelt er seit Jahren eine „If/Then“ genannte quasi naturwissenschaftliche Methode weiter, die vollste Konzentration auf den Körper des anderen erfordert. Sein aktueller Workshop „If/Then für alle“ will über drei Jahre hinweg nonverbal und mit ganz normalen Menschen untersuchen, wie Individuen zu einem Kollektiv werden können.

Auch wenn Siegal für seinen Perfektionismus bekannt ist: Bei ihm stehen die Menschen im Vordergrund, nicht die Form. Menschen, die wie er selbst an einem Punkt ihres Lebens stehen, wo sie „das Unbekannte umarmen“. Gut 75 Prozent der Arbeit der neuen Kompagnie, sagt er, sei mit der Auswahl der Tänzer bereits getan. Mit ihnen gemeinsam über einen längeren Zeitraum Arbeiten wachsen und sich entwickeln zu sehen, sei genau das, was er derzeit brauche. Keine intensive 5-Wochen-­Affäre, sondern eher eine Ehe – eine Marriage of Difference.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen