piwik no script img

Persönliche AssistenzAlltag ermöglichen

Mit dem neuen Pflegestärkungsgesetz könnten gerade in Berlin Menschen mit Behinderung einen Teil ihrer Selbstständigkeit verlieren.

Dabeisein: Menschen mit Behinderung bei einer Demo im September in Berlin Foto: dpa

Der Dezember wird spannend. Noch kurz vor Weihnachten sollen wichtige Gesetze im Bundesrat beschlossen werden, die auch Menschen mit Behinderung betreffen. Da ist beispielsweise das Bundesteilhabegesetz. Weit weniger beachtet wurde bisher in diesem Zusammenhang das Pflegestärkungsgesetz, das sogenannte PSG III. Auch hier drohen Verschlechterungen. Denn wichtige Regelungen im PSG III haben auch Auswirkungen auf das Sozialhilferecht und betreffen damit Menschen mit Behinderungen.

Ganz konkret geht es dabei um die sogenannte Persönliche Assistenz. Diese Assistenten ermöglichen Menschen mit Behinderungen ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben. Aber genau das könnte nun eingeschränkt werden, geht es nach dem neuen PSG III.

Dabei ist die Persönliche Assistenz eine Erfolgsstory, besonders hier in Berlin. Hier haben sich Menschen mit Behinderungen ein Mitspracherecht erkämpft. Sie waren an den Verhandlungen mit der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales beteiligt und haben gemeinsam ein bundesweit vorbildliches Modell entwickelt: den sogenannten Leistungskomplex 32.

„Das ist eine Berliner Besonderheit, die sich sehen lassen kann.“ sagt Birgit Stenger, die erste behinderte Arbeitgeberin in Berlin mit Persönlicher Assistenz. „Nicht nur, dass der Leistungskomplex 32 gemeinsam mit uns, den Nutzern und Nutzerinnen der Persönlichen Assistenz, erarbeitet wurde, er enthält auch eine Definition der „Persönlichen Assistenz“, die damals den Grundsätzen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung entsprach und heute in Übereinstimmung mit der UN-Behindertenrechtskonvention steht.“

Persönliche Assistenz

Alltägliche Hilfe: bei der Körperpflege, der Ernährung, im Haushalt, bei der Kommunikation (etwa beim Tippen von E-Mails oder beim Dolmetschen im Falle einer Sprechbehinderung), bei der Mobilität bzw. der Begleitung außer Haus (sowohl zu Freizeitaktivitäten als auch zu Arztterminen oder zur Arbeitsstelle) sowie bei allen im Alltag notwendig werdenden Handreichungen.

Notfälle: Auch in unvorhergesehenen oder gefährlichen Situationen, in denen schnelle Hilfe notwendig ist, ist persönliche Assistenz gefragt.

Sepbstbestimmtheit: Im Unterschied zu anderen Hilfeformen entscheidet die behinderte Person bei persönlicher Assistenz darüber, wer ihr wann, wo, bei welchen Tätigkeiten in welcher Form hilft.

Berlin als Vorreiter

Die Vereinbarung mit dem Land Berlin sieht vor, dass in folgenden Bereichen Persönliche Assistenz gewährt wird: bei der Körperpflege, Ernährung, im Haushalt und im Bereich Mobilität. Das Besondere des Berliner Modells ist, dass die Unterstützung auch bei Begleitung außer Haus und bei anderen Verrichtungen geleistet wird und ausschließlich die Zeit abgerechnet wird.

Denn kein Leistungskatalog kann alle denkbaren Hilfebedarfe des alltäglichen Lebens abdecken, z. B. vom Naseputzen bis zum Aufheben heruntergefallener Gegenstände. Das Wichtigste an der Persönlichen Assistenz ist aber: Die zu unterstützende Person entscheidet selbst, wer ihr wann, wie, wobei und wo hilft. Eine großer Schritt in Richtung Selbstbestimmung und Teilhabe und eine wichtige Hilfe für Menschen, die sonst auf Grund ihrer Beeinträchtigung oft vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind. Berlin liegt damit in dem Bereich weit vorn.

ist Fachreferentin des Paritätischen Landesverbandes Berlin

Mit dem neuen PSG III könnte das vorbei sein. Denn im jetzigen Entwurf ist Persönliche Assistenz nur noch in genau definierten begrenzten Bereichen gewährt. Besonders problematisch ist dabei der Bereich Mobilität. Denn Mobilität soll nur noch innerhalb der Wohnung von Persönlichen Assistenten unterstützt werden.

Das bedeutet konkret, dass ein Kinobesuch beispielsweise nur noch möglich wird, wenn Verwandte oder Freunde es sich einrichten können, die Begleitung bei Behördengängen wegfällt und auch die Unterstützung beim Einkaufen nicht mehr finanziert wird. Denn dann wird für den Menschen mit Behinderung eingekauft – im Modell der Persönlichen Assistenz kauft der Mensch mit Behinderung ein mit der Unterstützung, die er dazu braucht

Wird Pflege die neue Teilhabe?

Heißt das nun, dass das Modell der Persönlichen Assistenz der Vergangenheit angehört, Motto: Zurück in die 90er? Die ersten Signale gehen in diese Richtung: Verträge für Assistenzleistungen werden von den örtlichen Sozialämtern zum Jahresende gekündigt mit dem Hinweis, das künftig die Pflegekassen zuständig seien.

taz.mit behinderung

Menschen mit Behinderungen fordern immer wieder: „Nichts über uns ohne uns!“ Jedoch sind sie in den Redaktionsräumen des Landes kaum vertreten. Zum internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2016 präsentiert sich die taz am Vortag als Ergebnis einer „freundlichen Übernahme“.

Darin erzählen Autor_innen von sich. Davon, dass sie nicht „an den Rollstuhl gefesselt sind“ oder „an ihrem schweren Schicksal leiden“. Davon, wie es ihnen im Alltag und im Beruf ergeht. Koordiniert wird die Übernahme von Leidmedien.de. taz.mit behinderung – am Kiosk, eKiosk und natürlich online auf taz.de.

Gleichzeitig besteht noch eine letzte Chance, dass die Änderungsanträge der Bundesländer und die Abstimmung im Bundesrat im Dezember hier eine rechtliche Klarheit und klare Öffnung der Leistungen bringen. Die Persönliche Assistenz muss bestehen bleiben und um echte Teilhabe zu ermöglichen, muss sie sogar noch verbessert werden: beispielsweise sollten alle Leistungen, die auf Grund einer Behinderung gewährt werden, einkommens- und vermögensunabhängig sein.

In Deutschland beziehen etwa 450.000 Menschen aufgrund ihres hohen Assistenzbedarfs ergänzend zur Pflegeversicherung Hilfe zur Pflege aus der Sozialhilfe – das sind etwa 0,5 Prozent der Bevölkerung. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – das ist es, was das Leben ausmacht. Wir alle wollen uns entwickeln, gefördert werden, rausgehen, dazugehören, etwas entscheiden und beitragen können. Und das wollen wir uns für 0,5 Prozent der Bevölkerung nicht leisten?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!