Der Fall Jacob Appelbaum: Über Gerechtigkeit
Jacob Appelbaum war ein Star der Hackerszene. Dann sagen mehrere Frauen, er habe sie sexuell genötigt. Er verliert Job, Kollegen, Freunde. Zu Recht?
In einer Januarnacht 2014 soll Appelbaum einer neben ihm schlafenden Frau in seiner Berliner Wohnung an die Scheide gefasst haben. Anfang Januar 2016 soll er mit einer Frau gegen ihren Willen Sex auf seiner Couch gehabt haben. Am 3. Januar 2016 zog er eine auf seinem Badewannenrand sitzende Frau zu sich ins Wasser.
Diese Vorwürfe sind auf einer Homepage sehr detailliert nachzulesen. Acht Männer und Frauen berichten dort, die meisten anonym, wie Appelbaum sie durch sexuelle Übergriffe oder Mobbing zu Opfern gemacht haben soll.
Jacob Appelbaum ist einer der bekanntesten und glamourösesten Hacker und Netzaktivisten der Welt, ein Rockstar der Szene, provokant, geltungsbewusst, einer, der gerne mal seinen Kumpel Julian Assange, den Chef der Enthüllungsplattform Wikileaks in dessen Exil in der ecuadorianischen Botschaft anruft und den Hörer rüber reicht. Appelbaum ist auch der Mann, der im Spiegel aufdeckte, dass Angela Merkels Handy vom US-amerikanischen Geheimdienst NSA überwacht wurde.
Er ist erledigt
Als die Seite mit den Vorwürfen am 3. Juni 2016 im Internet erscheint, ist er erledigt. Seinen Job hat er da bereits verloren, viele alte Freunde und Kollegen wenden sich von ihm ab.
Wenn ab dem 27. Dezember 2016 in Hamburg wieder über 12.000 Menschen zum „33C3“ zusammenkommen, einem der größten Hackerkongresse der Welt, soll dort in den Vorträgen und auf den Podien kein Wort über Jacob Appelbaum zu hören sein. Auf diesem Kongress treffen sich die wichtigsten Hacker und IT-Entwickler, Programmierer und sicher auch Geheimdienstmitarbeiter. Es ist das Jahresereignis der Szene, in Deutschland, Europa und weit darüber hinaus.
Der Chaos Computer Club (CCC), der den Kongress veranstaltet, ist eine deutsche Hackervereinigung, seine Mitglieder sprechen als Experten zu Computersicherheit und Datenschutz in Talkshows, vor dem Bundesverfassungsgericht und in den Untersuchungsausschüssen deutscher Parlamente. Das gibt dem Club eine politische Stärke, die international einmalig ist.
Der Kongress, heißt es im CCC, sei nicht der richtige Ort, dem Drama um Jacob Appelbaum ein Forum zu geben. Diese Bühne gab es in der Vergangenheit oft genug. Etwa als sich Appelbaum im vergangenen Jahr hemmungslos betrank, besoffen Frauen küsste, andere beleidigte und anschließend in sein Hotelzimmer kotzte. Oder damals, 2013, beim Streit um die Frage, ob Appelbaum einen Vortrag halten durfte. Einige fanden, dass es langsam mal reichte mit der großen Jake-Show. Am Ende stand er dann doch wieder dort vorn und präsentierte exklusiv einige der elaboriertesten Überwachungsmethoden der NSA. Viele Zuhörer standen nach dem Vortrag auf und applaudierten.
Am Ende haben ihn immer alle bejubelt
Und das ist, im Wesentlichen, Charakterzug und Geschichte von Jacob Appelbaum: Wo er auftaucht, nimmt er sich Raum, auch gegen Widerstände. Am Ende jubelten dann doch stets die allermeisten.
Diese Geschichte ist mehr als nur ein Appelbaum-Drama. Es geht hierin um Sittenbild und Rechtsverständnis einer digitalen Avantgarde, die mit technischen Mitteln für Freiheit und Selbstbestimmung kämpft, gegen Überwachung und Unterdrückung durch mächtige Konzerne und Staaten. Es geht im Kern um die Frage, wie eine anarchistisch geprägte Community, in der viele Menschen staatliche Institutionen ablehnen, Gerechtigkeit herstellen will.
Es dauert nur wenige Tage nach Erscheinen dieser Homepage im Juni bis sich nahezu die gesamte Hackerwelt von Jacob Appelbaum, geboren 1983 in der Nähe von San Francisco, distanziert. An seinem Wohnhaus in Berlin prangt kurz darauf ein Graffito: „Ein Vergewaltiger wohnt hier“. Sein Arbeitgeber, das Tor-Projekt, bei dem er zuvor Jahresgehälter von knapp 100.000 US-Dollar bezieht, hat ihn zu dieser Zeit bereits fallen gelassen.
Unerwünschte Person
Der von ihm einst in San Francisco mitgegründete Hackerclub Noisebridge distanziert sich von ihm, der Chaos Computer Club erklärt ihn zur unerwünschten Person. Appelbaum bleiben nur zwei Rückzugsräume: Ein paar Freunde im Umfeld von Wikileaks, mit denen er immer wieder zusammenarbeitet. Und ein Doktorandenprogramm an der Universität von Eindhoven in den Niederlanden.
Es gibt dieses Büro, Raum 6.146, im sechsten Stock des Mathematikgebäudes an der Technischen Universität in Eindhoven. Rechts neben der Eingangstür, auf dem silbernen Namensschild, steht in der obersten Reihe in schwarzen Buchstaben „J. Appelbaum“. In diesem Büro könnte Jacob Appelbaum vielleicht nochmal etwas werden. Er könnte sich einen Doktortitel erarbeiten, sich mit anderen die Halbfettmagarine teilen oder den angebrochenen Pinot Grigio, Jahrgang 2013, der im Kühlschrank der Gemeinschaftsküche der Forschungsgruppe „Coding Theory and Cryptology“ steht. Er könnte sich so etwas wie eine bürgerliche Existenz aufbauen; wenn sie ihn lassen.
Im Rahmen dieser Recherche war es möglich, nicht nur mit vielen der Frauen zu reden, die Jacob Appelbaum Vorwürfe machen, sondern auch mit ihm selbst. Für diesen Text wurden über einen Zeitraum von mehreren Monaten Dutzende Menschen befragt, unter ihnen viele der Anklägerinnen, Beteiligte, Lebenspartner, Zeugen beider Seiten sowie Mitarbeiter und Führungskräfte von Tor. Die meisten wollen nicht namentlich in Erscheinung treten.
Abstinenz, Therapie und Monogamie
Jacob Appelbaum gibt sich heute geläutert, trinkt keinen Alkohol mehr und geht regelmäßig in Therapie. Er führt seit Monaten eine monogame Beziehung mit einer Frau. Seine Darstellung der Vorfälle ist auch nach Stunden und Tagen der Gespräche konsistent. Sie stimmt in vielen Details mit dem überein, was andere erzählen. Dazu gehört, dass Jacob Appelbaum allerlei einräumt und bereut.
Das Leben: Am 1. April 1983 wird Appelbaum in der Nähe von San Francisco geboren. In Interviews, etwa im Rolling Stone, beschreibt er seine Kindheit als einsam, schwierig, seine Familie als verrückt.
Der Punk: Jahrelang arbeitet Appelbaum für ein Pornoseite, gehört zur Generation der „Cypherpunks“, die einen anarchistischen Lebensstil mit dem Kampf um Verschlüsselungstechnik verbinden.
Die Arbeit: Computerexperte, Fotograf, Journalist – und mehr. Appelbaum war maßgeblich an der Verbreitung der Snowden-Dokumente beteiligt, verfügt über beste Kontakte ins Zentrum von Wikileaks und war bis zum Rauswurf im Mai 2016 das Gesicht des Anonymisierungsprojekts Tor.
Er räumt ein, eine Frau am 3. Januar 2016 in seine Badewanne gezogen zu haben, dass er oft betrunken war und zu viele Witze auf Kosten anderer gemacht hat. So wie damals, als er mit einem Tor-Entwickler darüber scherzte, welche Sexspielzeuge Appelbaum dessen Tochter empfehlen würde. Oder als er einem Tor-Mitarbeiter sagte, dass eine sexuelle Rekrutierungsstrategie bei ihm offenbar gewirkt habe. Das sollte ein Witz sein, sagt Appelbaum heute, und dass er den heute nicht mehr machen würde. Was er jedoch nicht einräumt: Dass er ein Vergewaltiger sein soll. Und es gibt, Stand heute, keinen belegbaren Beweis dafür, dass er es doch ist.
Es gibt statt dessen Vorwürfe, deren Grundlage, Zustandekommen und Präsentation viele Fragen aufwerfen. Kurz nachdem die Internetseite mit den Vorwürfen online geht, entdeckt eine Frau, die in diesem Text nicht genannt werden will, sich selbst in einer der Geschichten jener Homepage wieder und ist fassungslos.
„Der Text“, sagt sie in einem Berliner Burger-Laden, in dem man auch mit der digitalen Währung Bitcoin zahlen kann, „ist falsch in fast jedem Detail“. Sie hatte mal einer Frau, die öffentlich meist unter dem Pseudonym Isis Agora Lovecruft auftritt, von einem Vorfall mit Jacob Appelbaum erzählt. Es ging dabei um einen Biss in ihre Lippe bei einem leidenschaftlichen Kuss. Allerdings hat sie den Vorfall anders erlebt, als er auf der Homepage geschildert wird.
Zerreißprobe im Tor-Projekt
Die Betroffene wendet sich an eine Bekannte namens Alison Macrina. Sowohl Lovecruft als auch Macrina werden in diesem Text noch eine zentrale Rolle spielen. Nach dem Gespräch verschwindet kurz darauf die Geschichte der Frau mit der aufgebissenen Lippe von der Homepage. Sie ist bis heute empört. Sie sagt, wenn Appelbaum tatsächlich so schlimm wäre, wie er in der Geschichte geschildert wurde, „hätte es eine Gefahr für mich sein können, meinen Fall ohne meine Zustimmung zu veröffentlichen“.
Der Veröffentlichung geht noch eine andere Geschichte voraus, eine Zerreißprobe bei dem weltweit wichtigsten Projekt, das es Menschen erlaubt, anonym im Internet zu surfen.
Im März 2015 treffen sich in der spanischen Stadt Valencia Entwickler aus allen Teilen der Welt, um technische und strategische Fragen zu besprechen. Sie alle sind Teil des Tor-Projektes. Die Non-Profit-Firma Tor Project Inc. stellt gemeinsam mit der sogenannten Tor-Community eine technische Infrastruktur bereit, mit der Internetnutzer ihre Identität verschleiern können. Das ist nützlich für Menschenrechtsaktivisten, Whistleblower und Journalisten, aber auch für Waffenhändler, Pädophile und für Geheimdienste aller Länder. Deswegen war es stets ein Politikum, wie das Tor-Netzwerk beschaffen ist, wer es entwickelt und wer Einfluss darauf nimmt. Jacob Appelbaum hat jahrelang als internationales Aushängeschild und Entwickler für Tor gearbeitet. Er, der über enge Beziehungen zu Julian Assange und in den inneren Zirkel von Wikileaks verfügt, steht aber auch immer wieder bei Streitigkeiten im Mittelpunkt.
Es beginnt bei einem Essen in Valencia
Bei einem Essen mit der Tor-Leitung in Valencia im März 2015, bei dem Appelbaum nicht dabei ist, bricht eine Angestellte in Tränen aus. Sie sagt, dass sie sich von ihm gemobbt fühle und dass sie von Vergewaltigungsvorwürfen wisse. Bei Tor leiten sie daraufhin eine interne Untersuchung ein. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass die Angestellte keine Belege für den Vergewaltigungsvorwurf vorbringen kann. Die Mitarbeiterin sowie Appelbaum werden jeweils für zehn Tage suspendiert. Ihr wird vorgeworfen, das Unternehmen schlecht zu reden. Ihm wird vorgeworfen, sich unangemessen verhalten zu haben. Es geht dabei um das, was er über Sexspielzeuge und Rekrutierungsstrategien gesagt hat.
Nach ihrer Suspendierung verlässt die Angestellte, die die Vorwürfe erhoben hatte, Tor. Appelbaum bleibt. Nun beginnt der nächste Akt der Geschichte: Es werden Gerüchte verbreitet.
In einer Nacht Mitte September 2015, bei einem Abendessen in Berlin diskutieren einige seiner Gegner, wie Appelbaum entsorgt werden kann, wenn er Tor nicht freiwillig verlässt. Eine der anwesenden Frauen soll gesagt haben: „Wie können wir Jake töten?“
Bereits zu diesem Zeitpunkt, lange bevor die Homepage mit den Vorwürfen veröffentlicht wird, erhalten einige Persönlichkeiten der Hackerszene wohlmeinende Ratschläge. Es sei ratsam, sich von Appelbaum fernzuhalten, wenn man selbst keinen Schaden nehmen wolle, erfahren sie in persönlichen Gesprächen. Zu diesem Zeitpunkt sind einige der Vorfälle, mitunter die gravierendsten, die später präsentiert werden, noch gar nicht geschehen.
Sexpartys auf MDMA
Ende 2015 verbreitet sich in Teilen der Szene das Wort „rapist“, zu deutsch: „Vergewaltiger“. Immer wieder wird es weiterhin, als sei nichts geschehen, als sei nichts im Schwange, Sexpartys geben, mit zwei, drei, vielen Beteiligten, mal in der Wohnung von Jacob Appelbaum, mal woanders, oft wird dabei viel getrunken und meistens ist MDMA im Angebot, eine Droge, die entgrenzend wirkt und locker macht.
Man kann sich fragen, was sich einer wie Appelbaum, einer der bekanntesten Feinde der NSA, der seit Juni 2013 aus Angst vor Verfolgung durch die US-Geheimdienste im Berliner Exil lebt und bei jeder Gelegenheit sein Laptop im Auge behält, der anderen Vorträge hält über „operative Sicherheit“, was so jemand sich dabei gedacht hat, weiterhin einen solchen Lebensstil zu pflegen, obwohl sich die Schlinge um seinen Hals immer weiter zuzieht.
Alexander Gauland galt als kluger Konservativer, mit dem Linke gern debattierten. Nun dirigiert er die AfD immer weiter nach rechts – und will so in den Bundestag. Warum er sich so entwickelt hat, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 10./11. Dezember 2016. Außerdem: In der deutschen Hackerszene tobt ein Kampf um Sex, Moral und Macht. Ein Netz-Krimi. Und: Eine Begegnung mit der marokkanisch-französischen Autorin Saphia Azzeddine. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Für ihn selbst, sagt Appelbaum, sei es doch immer ein Schutz gewesen, sich durch maximale Offenheit unerpressbar zu machen. Dass fast jeder wusste und wissen konnte, was in der Szene und auch bei ihm so abging. Gerade deshalb habe er doch darauf geachtet, dass etwa beim Gruppensex stets klar blieb, wer was wolle und wer nicht. Sex vor anderen, bei offener Tür – welche bessere Garantie gibt es, möglichen Vorwürfen vorzubeugen?
Dass Appelbaum, der sich Feminist nennt, der jahrelang für eine Pornoseite namens Kink.com arbeitet, die sich auf sadomasochistische Sexfantasien spezialisiert hat, einen offenen, entgrenzten Umgang mit Sex pflegt, daraus macht er nie ein Geheimnis. Im Duktus und Selbstbild der Szene liest sich dieser Lebensstil – das Hacken, die Partys, das grenzenlose Gefühl, die Welt für sich zu entdecken, zu erkämpfen – wie der höchste Ausdruck eines selbstbestimmten Lebens. Es sind viele, die sich davon inspirieren lassen. Es sind auch viele, um es etwas anders auszudrücken, die mitficken.
Viele der Momente, die später zu Vorwürfen werden, entstehen im Kontext solcher Situationen, in denen vieles auf Nähe und Körperkontakt angelegt ist, in denen Grenzen verschwimmen. Eine dieser Schilderungen ist die einer Frau, die sich „Sam“ nennt, hinter dem Pseudonym steckt die US-Amerikanerin Alison Macrina. Sie arbeitet bis heute für das Tor-Projekt und sagt, die Geschichte von „Sam“ sei ihre Geschichte.
Sie sagt, er habe „manipulative Kräfte“
Damals, am Rande der Konferenz im März 2015 in Valencia, wo die ersten Vorwürfe gegen Appelbaum erhoben worden waren, haben sich die beiden zum ersten mal getroffen. Laut Appelbaum begann die Begegnung mit Oralsex in einem Hotelzimmer. Die beiden hätten auch später noch geflirtet und HIV-Testergebnisse ausgetauscht, um, so sah es Appelbaum, ungeschützt Sex haben zu können. Er sagt, er habe sich in sie verliebt. Erst Monate später, beim Kongress des Chaos Computer Club im Dezember 2015, wo sie gemeinsam auf der Bühne stehen, sehen sie sich erstmals wieder. Am 3. Januar 2016 besucht sie ihn in Berlin.
Appelbaum erzählt darüber in stundenlangen Gesprächen auf der immer gleichen Parkbank in Berlin-Mitte oder, noch einmal, im Berliner Soho-House, einem Club nur für Mitglieder, in dem während eines Gesprächs Thomas Gottschalk vorbeiläuft.
Aus Appelbaums Perspektive ist an diesem Abend Folgendes passiert: Sie, auf die er sich lange gefreut hat, besucht ihn nach monatelangen Chats in seiner Wohnung. Für ihn ist klar, dass es um Sex gehen wird. Sie ist kokett. Sie spielt ein Spiel von Nähe und Distanz. Vielleicht ist sie auch unentschieden. Sie möchte jedenfalls nicht mit ihm in die Wanne. Das sagt sie auch deutlich. Allerdings setzt sie sich halbnackt, nur noch mit Schlüpfer und Hemdchen auf den Wannenrand und taucht ihre Füße zu ihm ins Wasser.
Als er sie dann zu sich zieht, reagiert sie verletzt und verlässt die Wanne. „Ich dachte, sie sei aufgebracht, weil ihre Unterwäsche nass geworden war. Dieser Eindruck verstärkte sich, als wir danach in mein Schlafzimmer gingen und uns sehr explizit darauf einigten Geschlechtsverkehr zu haben – der dann auch stattfand.“ Sie sprechen, sagt er, auch darüber, ob sie es mit oder ohne Kondom machen wollen.
Die Geschichte, die auf der Homepage erscheint, erzählt nichts von diesem Sex. Der Vorwurf, der Appelbaum dort gemacht wird, ist in diesem Fall lediglich, dass er die halbnackte Frau zu sich ins Wasser gezogen hat.
Alison Macrina schildert das, was sie in Appelbaums Wohnung erlebt hat, ganz anders: „Ich habe gedacht, what the fuck, du musst raus aus dieser Situation, warum bist du in dieser Badewanne mit diesem Mann, obwohl du ihm mehrmals nein gesagt hast“, schreibt sie auf der Homepage. „Irgendwie sagst du ihm nein und er überzeugt dich, dass das, was du gerade gesagt hast, ein Ja war.“ Macrina sagt, Appelbaum verfüge über „manipulative Kräfte“.
Sie schildert auch ihren eigenen Anteil an dem, was in seinem Badezimmer passiert ist. Sie schreibt auf der Homepage über den Restalkohol in ihrem Körper, ihre Unentschlossenheit – was oft vorkommen mag in der Welt; nur dass die Szene in diesem Fall als Puzzleteil Eingang findet in das zusammengefügte Bild einer öffentlichen Verurteilung, nicht vor Gericht, sondern auf einer Internetseite. Manche sagen Pranger dazu.
Die Idee einer „transformativen Justiz“
Alison Macrina ist Befürworterin einer „transformativen Justiz“. Sie glaubt daran, dass Gerechtigkeit nicht durch staatliche Justizsysteme hergestellt werden sollte, sondern durch das gemeinsame Verbessern der Bedingungen in einer Gemeinschaft. Dadurch, dass Strukturen verändert werden, die Ungerechtigkeit erzeugen. Diese teils feministisch inspirierte Idee folgt der Erfahrung, dass Frauen, die sexuelle Übergriffe geltend machen wollen, vor Gericht kaum eine Chance haben. Alison Macrina wäre wahrscheinlich keine Ausnahme.
Im Laufe dieser Recherche ändert sich ihre Version der Geschichte. Zuerst berichtet sie in einem Telefonat im Juni, dass sie nach dem Vorkommnis in der Badewanne direkt die Wohnung verlassen habe, „aufgewühlt und unter Tränen“. Sie weint auch als sie den Vorfall einmal Ende August erneut schildert: „Er hat versucht, Sex mit mir zu haben und berührte mich und sich selbst ein bisschen, bevor ich die Energie hatte, mich aus der Situation zu entfernen“, sagt Macrina. „Es war einvernehmlich in der Form, dass ich nie nein gesagt hatte, aber nur weil er mich klein bekommen hat, indem er mich immer und immer und immer wieder fragte, auch indem er mich demütigte und einen Feigling nannte.“
Es steht Aussage gegen Aussage. Das ist oft so, auch bei Gerichtsprozessen, in denen es um sexuelle Übergriffe geht. Die Frauen müssen etwas beweisen, das sie kaum belegen können. Deswegen fordern viele Feministinnen, dass den Frauen in solchen Fällen grundsätzlich erst einmal geglaubt wird.
An der Seite der Frauen
In dieser Situation hat sich das Unternehmen Tor für etwas entschieden: Es steht an der Seite der Frauen. Das geht soweit, dass eine Tor-Sprecherin Männern, die Entlastendes aussagen, vorwirft, Teil einer Verschwörung zu sein. Männliche Tor-Mitarbeiter sollen aus dem Projekt ausgeschlossen werden, nachdem sie ausgesagt haben, einige Vorwürfe gegen Appelbaum ließen sich nicht aufrechterhalten.
Die Männer waren an dem Abend dabei, als Jacob Appelbaum, das ist der gravierendste Vorwurf gegen ihn, eine Frau auf der Couch in seinem Wohnzimmer sexuell genötigt haben soll. Auf der Homepage wird beschrieben, Appelbaum habe sie angefasst als sie „wieder zu Bewusstsein gekommen“ sei. Ob oder warum sie vorher bewusstlos war, schreibt sie nicht. Die beiden Zeugen sagen, sie hätten weder sexuelle Handlungen gesehen, noch dass die Frau bewusstlos oder in Trance war, während sie neben ihr auf dem Sofa saßen.
Auf der Homepage ist der Fall unter dem Pseudonym „River“ beschrieben. Die Zeit hatte den Hergang des Abends im August im Detail dargestellt und starke Zweifel am Vergewaltigungsvorwurf geäußert. Die taz kommt zu dem gleichen Schluss.
Im ersten Halbjahr 2016 macht sich eine Frau, die in der Szene als Isis Agora Lovecruft bekannt ist, daran, Jacob Appelbaum in seine Schranken zu verweisen. Sie und Appelbaum verbindet ebenfalls eine Geschichte. Beide lernen sich Ende 2010 kennen. Der Vorwurf, den Lovecruft unter dem Namen „Forest“ vorbringt, bezieht sich auf eine Nacht im Januar 2014. Damals soll Applebaum ihr, als sie neben ihm im Bett schläft, die Hose geöffnet und an die Scheide gefasst haben.
Sexuelle Schlafwandlerei
Appelbaum behauptet, dass er unter „Sexomnia“ leide, einer Form der sexuellen Schlafwandlerei. Er hält den Vorfall, den Lovecruft beschreibt, deshalb nicht für unmöglich, allerdings erinnere er sich nicht daran. Nach diesem Vorfall 2014 sucht die Frau, deren Programmierkünste in der Hackerszene einen exzellenten Ruf genießen, weiter die Nähe zu Appelbaum. Sie gehen gemeinsam mit anderen in die Sauna; mit ihrem Partner wohnt Lovecruft zeitweise in Appelbaums Wohnung und sittet seinen damaligen Hund, der den Spitznamen „Crypto Rosa Trotzki“ trägt. Beide wechseln in dieser Beziehung von Nähe zu Distanz und wieder zurück. Mal redet sie schlecht über ihn, mal redet er schlecht über sie. Zwischendurch arbeiten sie an gemeinsamen Projekten.
Als Appelbaum im September 2015 an der Technischen Universität Eindhoven ein Doktorandenprogramm beginnt, ist auch sie interessiert. Für Appelbaum ist die Universitätsstelle in Eindhoven auch eine existentielle Stütze, falls er, nach den Vorwürfen im März in Valencia, seine Arbeit beim Tor-Projekt nicht fortsetzen kann. Lovecruft versucht schließlich, bei den selben Professoren wie Appelbaum angenommen zu werden.
Am Ende wird ihr das nicht gelingen. Ein anderer Mensch wird jedoch das Büro beziehen, das direkt neben Appelbaums liegt. Es ist der Lebenspartner von Isis Agora Lovecruft oder einer ihrer Lebenspartner, das ist nicht klar. Dieser Mann wird später Arbeiten von Appelbaum bewerten, deren Ergebnisse für dessen Vorankommen in der Universität wichtig sind.
Im Januar 2016, kurz nachdem sie an der Universität in Eindhoven abgelehnt wird, beteiligt sich Isis Agora Lovecruft daran, Geschichten zu sammeln über Jacob Appelbaum. Anfang 2016 scheint sie sich dann zu entschließen, Appelbaum zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Zuerst plant sie nicht, diese zusammengetragenen Erzählungen publik zu machen.
Keine freundschaftliche Mediation
In einem Chat Anfang Februar schlägt sie Jacob Appelbaum vor, eine „Intervention“ beim Tor-Entwicklertreffen zu machen, das, wie im Jahr zuvor, wieder im März in Valencia stattfinden soll. Er, so beschreibt es Lovecruft, bedroht sie darauf hin. Appelbaum bestreitet das. „Während dem eher einseitigen Gespräch beschrieb Jacob all die Zeit, die Anstrengungen und die Wege, die er nutzte, um das Leben von jemandem zu zerstören, der sich gegen ihn wehrte“, behauptet sie auf ihrem Blog. Damit war der Plan einer freundschaftlichen Mediation gestorben.
Am 17. Februar schickt sie eine E-Mail an die Leitung des Tor-Projekts. Danach gibt es ein Gespräch zwischen ihr, Alison Macrina und Tor-Chefin Shari Steele. Was dann kommt, besiegelt das gesellschaftliche Ende von Jacob Appelbaum. Am 2. Juni erscheint auf dem Blog von Tor ein Statement. Darin steht: „Der langjährige Netzaktivist, Sicherheitsforscher und Entwickler Jacob Appelbaum ist am 25. Mai von seiner Position im Tor-Projekt zurückgetreten.“
Parallel ringt die Tor-Führung mit Appelbaum um einen Auflösungsvertrag. Appelbaum erhält eine Frist von ein paar Stunden, dem Vertrag zuzustimmen. Er verweigert die Unterschrift.
Am 3. Juni 2016 geht die Homepage hoch. Wer dahinter steckt, ist bis heute nicht zweifelsfrei bewiesen.
„Dann muss es eben ein Inferno sein“
Kurz nach dem Erscheinen der Homepage trifft eine Frau im Vier-Sterne-Hotel Solaris im kroatischen Sibenik während einer Konferenz auf Isis Agora Lovecruft. Die Frau sagt, sie sei dabei gewesen als Lovecruft am Computer laut deutsche Rechtsparagrafen vorliest und in die Runde fragt, welche Folge wohl eine Falschaussage vor einem deutschen Gericht haben könnte. Dann, im weiteren Verlauf, sagt Lovecruft, laut der Zeugin: „Wenn ein Inferno nötig ist, dann muss es eben ein Inferno sein.“
An einem Tag Anfang Dezember 2016 ist das Zimmer mit der Raumnummer 6.146 an der Technischen Universität Eindhoven, das Büro von Jacob Appelbaum, wieder abgeschlossen. Er geht, sagt Appelbaum, derzeit nicht ohne Begleitung auf den Campus. Er will Lovecruft und ihrem Partner nicht begegnen. Auch dessen Büro gleich nebenan ist dunkel. Lovecrufts Partner wurde schon seit Wochen nicht mehr auf dem Campus gesehen. Derzeit berät die Universität darüber, ob Jacob Appelbaum das Doktorandenprogramm fortsetzen darf.
Isis Agora Lovecruft und Alison Macrina bekleiden heute wichtige Positionen bei Tor. Als Ergebnis einer internen Untersuchung hat die Chefin des Unternehmens, Shari Steele, am 27. Juli mitgeteilt, zahlreiche Personen hätten sexuell aggressives, unerwünschtes Verhalten von Jacob Appelbaum gemeldet. Von Vergewaltigungsvorwürfen ist in diesem Statement keine Rede.
Keine Bühne mehr für Jacob Appelbaum
Heute gibt es, auch im deutschen Chaos Computer Club, einige Menschen, die bedauern, „dass wir Jacob Appelbaum aufgrund einer solchen Rufmordkampagne mit abserviert haben“, sagt jemand. „Eigentlich“, sagt eine andere Person, die nicht genannt werden will, „müsste man für ihn aufstehen, aber das wagt niemand. Dazu war er einfach ein zu großes Arschloch.“ Es ist nicht die einzige Person, die so denkt. Öffentlich sagt es niemand.
Als im Oktober 2016 das sogenannte Content-Team in Berlin zusammenkommt, um über die inhaltliche Gestaltung des diesjährigen Kongresses des Chaos Computer Clubs zu beraten, kommt auch der Vorschlag, Jacob Appelbaum eine Bühne zu geben, um sich verteidigen zu können. Die Idee wird schnell verworfen. Beim Kongress Ende Dezember wird niemand von den Beteiligten auf einer der Bühnen reden dürfen. Eines der beliebtesten Spektakel der letzten Jahre, der „State of the Onion“-Vortrag, bei dem es um Neuigkeiten aus der Tor-Community geht, fällt aus.
Im letzten Jahr standen Alison Macrina und Jacob Appelbaum mit Shari Steele und dem Tor-Mitbegründer Roger Dingeldine bei diesem Talk noch gemeinsam auf der Bühne. Damals sagte Appelbaum: „Wir freuen uns, so viele neue Gesichter präsentieren zu können. Dies ist nicht länger die Roger- und Jake-Show. Das ist uns wirklich wichtig. Im nächsten Jahr werden wir hoffentlich nicht mehr hier sein, aber noch immer am Leben.“
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