Jahresendbetrachtung: Verpiss dich, 2016!
Angesichts der bizarren letzten Tage eines merkwürdigen Jahres fragt die Autorin sich, ob sie mehr lachen oder mehr weinen soll.
Wer ist dieser Deutschland?“, fragt ein Neuköllner Graffiti. Ja, wer? Wer ist dieser vollkommen durchgedrehte Kerl? So sind die letzten Tage eines äußerst merkwürdigen Jahres vergangen: Ein tunesischer Terrorist rast mit einem polnischen Laster über einen Berliner Weihnachtsmarkt, tötet 12 Menschen und verletzt 48 weitere teils schwer. Ein gar nicht mal so sehr in der Nähe befindlicher Pakistaner wird daraufhin stundenlang verhört. Später findet die Polizei Papiere und Handy des Tunesiers im Führerraum des Lasters. Der Pakistaner kommt frei, der Tunesier wird in Mailand erschossen. Berlin beruhigt sich und feiert Weihnachten. Mein palästinensischer Nachbar hat einen größeren Weihnachtsbaum als ich.
Dann weihnachtet es, wenn auch nicht für alle. Junge Flüchtlinge aus Syrien und Libyen versuchen in einer U-Bahn-Haltestelle einen Obdachlosen anzuzünden. PassantInnen retten den Mann. Man möge ihm jetzt nicht mit der Aussage kommen, das hätten genauso gut Deutsche machen können, sagt ein Berliner AfD-Politiker.
Mindestens 28 Obdachlose wurden seit 1990 von deutschen Neonazis ermordet.
„Ist das alles furchtbar“, seufze ich ins Telefon. Er halte es da ganz mit Madonna, erklärt mir der Beamte, der mir gerade Informationen zu der Tat im U-Bahnhof gibt. „Ach?“, sage ich und denke an „Take a bow“ und „Isla bonita“. Ja, die habe getwittert, 2016 möge sich doch bitte endlich verpissen, sagt der ansonsten sehr seriöse Polizist.
Am Tag nach Weihnachten schickt mir eine junge muslimische Freundin ein Bild einer aufgeschnittenen Tomate, die sie in der Hand hält. Darunter steht, sie fühle sich geehrt. „Warum“, frage ich, „weil du eine Tomate isst?“ Nein, schreibt sie zurück: Weil die weiße Maserung auf der Schnittseite der Tomate in arabischen Buchstaben das Wort Allah bilde.
„2017 kann nur besser werden“, sagt meine Tochter. Sie freut sich auf Silvesterpartys. Ich bin mir nicht sicher, behalte das aber lieber für mich. „Wer ist dieser Deutschland“, frage ich sie, als sie wieder in ihr Zimmer geht. „Deine Mudda!“, strahlt sie über die Schulter zurück.
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