Die Sorgen der anderen

Spitzenreiter Leipzig bezwingt trotz eines ermogelten Elfmeters verdient Schalke mit 2:1 und befördert die Abstiegsängste der ehrgeizigen Konkurrenz. Von der Champions League will man bei RB aber nicht reden

Fassungslos: Schalkes Torwart Ralf Fährmann vor dem unberechtigten Elfer für Leipzig Foto: dpa

Aus Leipzig Peter Unfried

Der kulturelle Thrill von RB Leipzig besteht in seiner besonderen Art, Fußball zu spielen. Der Stil, vor allem das Tempo, führt zu besonders intensiven Gefühlserlebnissen. Wumm, wumm, wumm. Das meint nicht nur die Konter, das meint auch die Balleroberung. Diese Erlebnisse sind nicht durch moralische Einwände zu entkräften und auch nicht zu verbieten. Wer es fühlt, fühlt es.

Der Unterhaltungs-Thrill besteht in diesen Wochen in der Tabellenführung von RB und der Aussicht auf einen Showdown am letzten Vorrundenspieltag beim Verfolger FC Bayern München. Das 2:1 des Aufsteigers gegen Schalke am vergangenen Samstag war der zehnte Sieg in einer bisher ungeschlagenen Saison. Längst ahnt die derzeitige zweite Klasse der Bundesliga, dass RB noch schneller als befürchtet einen von ihnen aus der Champions League und dann nachhaltig aus der Spitze zu drängen droht. Die Wolfsburger sind der offensichtliche Kandidat, aber auch Mönchengladbach, Leverkusen und Schalke dürfen Abstiegsängste haben.

Ein riesiges Transparent hatten die Gästefans mitgebracht, um den ethischen und historischen Unterschied zwischen den Klubs zu markieren. Damit demonstrierten nach Spielschluss auch die Profis. Schalke, hieß es da, sei „Gegründet von Kumpeln und Malochern“. Und eben nicht von Gazprom, falls die Jüngeren das denken sollten. Ja, Schalke hat Tradition, zum Beispiel sechs Meistertitel (von sieben) zwischen 1933 und 1945. RB-Besitzer Red Bull produziert nicht nur Fußballgefühle, sondern auch Dosenlimo. Und nutzt den Spielraum knallhart aus, den die Regeln dieses seltsamen Geschäfts bieten.

Das Spiel hatte seinen Höhepunkt nach wenigen Sekunden. Highspeed-Sprinter Timo Werner zog in den Strafraum und fiel. „Tut mir leid, dass es nach Schwalbe aussah“, sagte er danach. Aber es sah gar nicht danach aus, es war eine. Insofern war das dann korrektes Fußballgesetz, dass er als nicht gefoulter Spieler den Strafstoß schoss – und verwandelte (2.). Den Rest besorgte der Schalker Sead Kolasinac, zunächst nach einem Konter zum zwischenzeitlichen Ausgleich (32.), dann per Eigentor zum Leipziger Sieg (47.), als er Forsbergs Freistoß einköpfte.

„Tut mir leid,dass es nachSchwalbe aussah“

RB-Stürmer Timo Werner

Schiedsrichter Bastian Dankert leistete hinterher Abbitte wegen des Strafstoßes („War ein Fehler“), Schalke regte sich auf, Werner schwadronierte noch von „Berührungen“, aber RB-Sportchef Ralf Rangnick hielt die Wahrheit hoch, dass man „bei allem Fairnessgedanken“ Schwalben selbstverständlich nicht zugibt. Das wäre widersinnig, denn man produziert sie ja, um zu betrügen. Rangnick sah RB auch als „klar bessere Mannschaft“. Im Boxen würde man von einem Punktsieg der Leipziger sprechen, die die taktisch hochklassige Partie über größere Strecken dominierten als Schalke.

Bei den Schalkern war trotz der ersten Niederlage seit Ende September wieder zu sehen, dass sie in Markus Weinzierls 3-5-2 nach einer niederlagenreichen Eingewöhnungsphase jetzt einen laufintensiven, körperbetonten, gut organisierten Fußball abliefern. Sie ließen mit ihrer dichten Fünferabwehr über weite Strecken kaum Räume für die Umschaltkonter der Leipziger. Speziell mit ihrem mutig agierenden Außenbahnpärchen Schöpf-Kolasinac brachten sie RB manchmal in Bedrängnis. Womöglich ist das die richtige Strategie, um Trainer Ralph Hasenhüttls Superspeed-Kontern zu begegnen. Andererseits hatte aber RB Phasen, in denen sie den Schalkern mit ihrem hohen Gegenpressing richtig zusetzten, in denen Werner lossprinten konnte oder die Offensive sehenswert kombinierte, meist unter maßgeblicher Beteiligung des Kreativspielers Emil Forsberg und des bemerkenswert polyvalenten Mittelfeldspielers Naby Keita.

Ob RB sein Tempo durchhalten kann? Der Kader ist zwar nicht so hochklassig wie der von Bayern oder Dortmund, aber er hat bereits Tiefe und in diesem Jahr hat man noch keine internationale Zusatzbelastung. Doch wie immer im Fußball kann es plötzlich auch nicht mehr laufen. Deshalb lässt sich Ralf Rangnick nicht locken und redet nicht von der Champions League, sondern von Ingolstadt, dem nächsten Gegner. Das Ziel einer „sorgenfreien Saison“ dürfte jedenfalls schon erreicht sein. Wodurch die Sorgen der anderen wachsen.