Weil nicht genug Pflegekräfte da sind, müssen Berliner Krankenhäuser Betten sperren und PatientInnen vertrösten Foto: Katharina Eglau/JOKER

Krankenpflege stillgelegt

Gesundheit Kranken beim Gesundwerden helfen – das ist Thomas Pottgießers Job als Pfleger im Krankenhaus. Massiver Personalmangel und überbelegte Stationen hindern ihn daran. Der Bericht eines Krankenpflegers

Seit 1990 arbeite ich am Urban-Krankenhaus in Kreuzberg. Seit einigen Jahren bin ich auf der gastroenterologischen Station, aber ich habe auch schon auf anderen Stationen gearbeitet, etwa in der Unfallchirurgie.

Mitte der 90er Jahre hat das angefangen, dass frei werdende Stellen nicht neu besetzt wurden. Bis etwa zum Jahr 2000 gab es sogar noch Abfindungen, gerade jüngere Kollegen hat man so regelrecht zum Kündigen gedrängt. In den letzten Jahren hat sich die Situation dann immer mehr verschärft, bis allen klar war, dass das so nicht mehr tragbar ist.

Seit ein paar Jahren wird zwar wieder eingestellt – aber weil immer weniger ausgebildet wurde und der Beruf so unattraktiv ist, ist es nicht einfach, Leute zu finden. Am Urban merken wir das noch nicht so, aber am Stadtrand, in Spandau oder Hellersdorf, kriegen die ihre Stellen einfach nicht besetzt.

Wenn es nicht die Pflegekräfte aus Südeuropa gäbe, wäre das Problem noch massiver. Schwierig ist, dass der Pflegeberuf in diesen Ländern anders umrissen ist – Körperpflege der PatientInnen etwa gehört dort nicht zum Aufgabengebiet dazu. Das ist eine Umstellung für die Kollegen.

Unser Arbeitspensum ist in den letzten Jahren immer mehr gestiegen. Stationen wurden zusammengelegt und immer stärker belegt. Und weil nicht mehr wie früher pro Bett, sondern pro Fall abgerechnet wird, werden die Menschen so schnell wie möglich wieder entlassen. Das bedeutet auch, dass heute fast nur noch Menschen im Krankenhaus sind, die wirklich sehr krank sind. Es gibt also mehr Patienten, die mehr Arbeit machen, bei viel weniger Personal.

Die Reaktion: Verzweiflung

Wenn man nicht weiß, wie man seine Arbeit schaffen soll, schaut man, welche Aufgaben man weglassen kann. Früher haben wir jeden Tag die Betten gemacht, das gibt es schon lange nicht mehr. Die Patienten werden auch seltener gewaschen als früher. An den Zeiten für die Desinfektion der Hände wird gespart. Und die Vorschrift, dass bei jedem Dienstwechsel die Betäubungsmittel gezählt werden sollen, wird immer dann eingehalten, wenn von Vorgesetzten darauf geachtet wird – auf Kosten anderer Tätigkeiten. Die regelmäßige Lagerung der Patienten, die das nicht mehr selbst können, wird viel zu oft vernachlässigt. Auf allen Stationen geht das so, auch aus anderen Häusern höre ich die gleichen Geschichten, egal bei welchem Träger.

Das Problem ist: Wenn die Schwestern und Pfleger wirklich auspacken würden über das, was sie alles gar nicht mehr oder nicht mehr korrekt tun können, wäre das wie eine Selbstanzeige – dabei liegt das daran, dass es einfach nicht mehr geht! Aber wer stellt sich schon gerne hin und sagt: Ich mache meinen Job nicht richtig und gefährde damit Menschen? Doch jeder, der im Krankenhaus arbeitet, weiß, dass es so ist.

Je weiter man aber in den ­Hierarchieebenen nach oben geht, desto geringer ist das Problembewusstsein darüber. Da kommt es nur darauf an, dass auf dem Papier alles stimmt. Jeder will nach oben hin signalisieren, dass alles in Ordnung sei und er also seinen Job gut macht: die Stationsleitung der Abteilungspflegekraft, die Abteilungspflegekraft der Pflegedirektion, die Pflegedirektion der Geschäftsführung, die Geschäftsführung dem Aufsichtsrat, in unserem Falle also indirekt dem Senat. So geht immer weiter, was eigentlich nicht weitergehen darf.

Es kommt oft vor, dass Kollegen wegen Burn-out ausscheiden. Ich mag den Begriff nicht, weil er so nach Krankheit klingt. Für mich ist das Verzweiflung – keine Krankheit, sondern eine adäquate Reaktion auf die Verhältnisse. Seit ein paar Monaten ist die Stimmung unter den Kollegen besser. Dass an der Charité der Entlastungstarifvertrag mit verbindlichem Personalschlüssel durchgestreikt wurde, hat etwas verändert. Das war die noch adäquatere Reaktion auf die Verhältnisse. Plötzlich ist wieder Hoffnung da. Und auch wie die Kollegen an der Charité gestreikt haben, ist dabei wichtig. Sie haben immer angekündigt, welche Station bestreikt wird, sodass das Krankenhaus Vorkehrungen treffen konnte: Notfallpatienten konnten in nicht bestreikte Bereiche verlegt werden, und die Aufnahme von Patienten, deren Eingriff nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfinden musste, konnte verschoben werden.

„Wer stellt sich schon gerne hin und sagt: Ich mache meinen Job nicht richtig?“

Hohe Streikbeteiligung

Dadurch war die Streikbeteiligung so hoch: Wenn keine Patienten in den Betten liegen, können sie auch nicht gefährdet werden. Dieser moralische Druck, Patienten und die Notdienst leistenden Kollegen zu gefährden, fällt durch so eine Vereinbarung weg. Schon bei den Warnstreiks zu den Tarifrunden hatten wir beim letzten Mal eine viel höhere Beteiligung als sonst – wenn es wirklich um mehr Personal geht, wird das hier richtig losgehen.

ProtokollMalene Gürgen

Thomas Pottgießer, 51, arbeitet als Pfleger am Vivantes Klinikum am Urban in Kreuzberg und ist dort im Betriebsrat

Notfall Krankenpflege: ­Ursachen und Folgen des ­Dilemmas auf SEITE 44–45