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SPD – ein bisschen geht’s jetzt los

AUS LÜNEN UND UNNAJÖRG ALBINSKY

„Der beißt nicht“, sagt Eberhard Kamm und schiebt die Englische Bulldogge zur Seite, die tatsächlich anstandslos davontrottet. Im Gegensatz zu dem Foxterrier, der auch nicht beißt, dafür umso wilder durch die Luft springt. Alle anderen verhalten sich ruhig: das Meerschweinchen, die Schildkröten, die Goldfische und das Degu – ein seltsames Mischwesen aus Ratte und Hamster. Im Hause Kamm ist die domestizierte Tierwelt los, und auch sonst geht es belebt zu. Und nun wird Kamm auch noch politisch aktiv. „Die SPD ist die einzige Partei, wo ich dahinter stehen kann“, sagt Eberhard Kamm, „und ich will mich engagieren. Ich hatte bisher keine Zeit, aber ab Januar bin ich arbeitslos.“

„Du bist nicht arbeitslos“, ruft seine Frau Sabine und biegt aus der Küche ins Wohnzimmer. „Du bist Hausmann. Da is nix mehr mit Hobby.“ Und dann lacht sie mit ihrer tiefen Stimme, und der Terrier hat ein neues Opfer zum Anspringen gefunden. „Wir sind eben nicht immer einer Meinung“, sagt ihr Mann. „Wir haben völlig verschiedene Vorstellungen“, sagt seine Frau.

Der SPD-Monolith im Ruhrpott ist in Bewegung. Seit Anfang September traten in Nordrhein-Westfalen etwa 350 Leute der SPD bei. Dabei hatten die Sozialdemokraten erst im Mai die Landtagswahlen verloren, nach 39 Jahren. Schon die ganzen letzten Jahre gab es hunderte Austritte und noch mehr Genossen, die der überalterten Partei einfach wegstarben. Es sah nicht gut aus, schon gar nicht für die Neuwahlen. Und nun das. Wie aus heiterem Himmel ist im Wahlkampf die Stimmung gekippt – auch bei Kamms in dem Mehrfamilienhaus in Lünen, in der Viereinhalbzimmerwohnung unter dem Dach.

Eberhard Kamm ist gekündigt, ab Januar, betriebsbedingt. Seit Juli ist er bei vollem Gehalt beurlaubt. Und so tauschen sie die Rollen. Seine Frau, die sich um den 15-jährigen Sohn und die 9-jährige Tochter gekümmert hat, muss wieder arbeiten. Im kommenden Jahr fängt sie in der Kreisverwaltung an. „Das ist keine Tragödie. Wir wissen uns beide sehr gut zu beschäftigen“, sagt der 46-Jährige und zeigt auf Skulpturen und Wandteppiche seiner Frau. Er selbst holt später Fotos hervor – er fotografiert für eine lokale Zeitung.

Elf Jahre Angst

Kamm war Chemikant, Schichtführer bei einem US-Unternehmen. Wenn die Firma anders gewesen wäre, menschlicher, fairer – Kamm hätte den Rauswurf bedauert. Er ist nicht der Mensch zum Nichtstun. Aber so wie es gelaufen ist, ist es wohl das Beste. „Wir waren den Leistungsdruck gewohnt, dieses tägliche ‚Wir sind zu teuer‘, ‚Wir haben zu viel Personal‘. Aber die Manager aus Amerika haben einfach alles reglementiert, jede Freiheit beschnitten. Tausend Regeln für jede Selbstverständlichkeit und für alles harsche Kontrollmechanismen. Selbst auf dem Weg zur Kantine hingen Schilder wie ‚Denk an deinen Helm!‘.“ Eberhard Kamm drückt die Zigarette aus. „Ich habe elf Jahre lang Angst gehabt, meinen Arbeitsplatz zu verlieren. Nun ist er weg, und mit ihm die Angst.“

Die Kamms wollen dabei sein, so war das schon immer. Sie waren im Kindergarten- und im Schulförderverein, sie wollen eine Patenschaft für die Renaturierung eines nahe gelegenen Baches. Ein bisschen gehört sich das hier auch so – nicht in Lünen, der 90.000-Einwohner-Stadt, aber doch in ihrer Straße. „Hier brauchst du keinen kompletten Werkzeugsatz“, sagt Kamm und spricht, wenn er von seiner Gegend redet, von einer „gut durchsozialisierten Straße“. Viele hier sind in der „Partei“, das ist die SPD in 90 Prozent der Fälle.

Kamm erzählt, was ihn politisch bewegt. Er redet über Bildungschancen, über Umweltsünden und Energiepolitik. „Ich will einfach was gegen die soziale Kälte tun“, sagt er und faltet die Hände auf dem Tisch. „Du wirst noch dein blaues Wunder erleben“, poltert seine Frau. „Die SPD auf Lokalebene ist der reinste Filz. Hier wird Lokalpolitik vererbt, da macht man nicht einfach so mit.“ Sie weiß, wovon sie spricht. Sabine Kamm ist seit 29 Jahren SPD-Mitglied. Sie schaut auf ihren Mann, der schaut zurück, dann lachen beide. In die Heiterkeit mischen sich vogelartige Laute aus der Küche. Gibt es noch mehr Tiere?

„Am Wahlabend bin ich mit meiner Frau ins Wahllokal, ein Bierchen trinken und die Ergebnisse angucken.“ Kamm schnappt sich eine neue Zigarette. „Aber Schalke hat gegen Hertha gespielt, die haben Fußball geguckt. Das war den Leuten wichtiger.“ Dass gerade hier in Lünen, wo 17 Prozent arbeitslos sind, sich viele wegen Hartz IV von der Politik abgewandt haben, weiß Kamm. „Ich glaube trotzdem, dass es der richtige Weg ist, auch wenn es nicht in Ordnung ist, dass jemand, der 30 Jahre gearbeitet hat, in dem Gesetz genauso behandelt wird wie jemand mit drei Jahren im Beruf. Das darf man nicht über einen Kamm scheren.“ Stille. Er schaut zu Sabine, Sabine schaut zu ihm. Über einen Kamm scheren! Und beide lachen wieder los.

Die Straße, die gut durchsozialisierte, mit kleinen Gärten hinter den dreigeschossigen Häusern, wo Heiligabend ein Nachbar Trompete bläst und dann alle runterkommen und sich frohe Weihnacht wünschen – diese Straße ist nur ein paar Kilometer von Brambauer entfernt, einem abgelegenen Stadtteil von Lünen. Hier spielt niemand Trompete, hier wohnen viele, die arbeitslos sind und schlecht damit leben. Vor ein paar Tagen erst hat es auf Stefanie Schmidts Nachbargrundstück gebrannt. Und an zwei weiteren Stellen – in derselben Nacht. „Hier kriegst du ein Problem, wenn du als Frau abends nach zehn noch allein auf der Straße bist. Da wirst du angepöbelt und beschimpft“, sagt Stefanie.

Stefanie Schmidt ist nicht von der ängstlichen Sorte. Aber es gibt vieles, was ihr nicht mehr passt. Die 19-Jährige sitzt lässig in ihrem Zimmer. Es ist ihr Zimmer, ihre Wohnung, die erste eigene. Hier kann sie tun, was und wann sie will, und je länger sie allein lebt, desto mehr will sie. „Schon in der Schule hat mich aufgeregt, dass in diesem Land immer nur über Elitenförderung gesprochen wird. Na bitte, dann sollen sie doch fördern, aber was hilft das den normalen Leute?“

Hinter ihr, an den orangefarbenen Wänden, hängen Fotocollagen ihrer Freunde und Liedtexte der „Böhsen Onkelz“. Hier wohnt sie nun, in dieser Zwischenzeit: Sie hat das Abi hinter sich und fängt demnächst ein Studium für Sozialpsychologie an. Sie ist keine Schülerin mehr und noch kein Studentin, aber voller Energie. „Für die Jugend gibt’s im Viertel überhaupt nichts zu tun“, sagt sie und rührt den frisch gebrühten Kaffee um. „Und deswegen hängen alle rum und meckern. Es müsste viel mehr in Bildung investiert werden und in Angebote für die einfachen Leute. Aber keiner tut was.“

Es geht ihr nicht um Schröder. Die große Politik betrachtet Stefanie mit derselben Skepsis wie die Lethargie ihrer Umgebung. Es geht um ihr Leben und darum, wie man spätabends noch nach Brambauer kommt, weil es keine Nachtbusse gibt. Bis zu dem Tag, an dem sie ihre, wie sie sagt, „Jetzt-reicht’s-Entscheidung“ fällte. „Am Wahlabend saß ich hier allein vor der Glotze. Und als dann die Ergebnisse kamen, dachte ich nur: Es reicht nicht. Nicht für die SPD und eigentlich für mich selbst auch nicht.“ Noch am Abend fährt sie den Computer hoch und tritt Online der SPD bei. Damit war sie nicht die Einzige. 26 solcher Beitrittsformulare landeten in den letzten Wochen in der SPD-Zentrale in Unna, knapp 20 Kilometer von Lünen entfernt. Sie landeten auf dem Schreibtisch von Birgül Kurtbas. Und da liegen sie nun, die Anträge, und müssen noch in den Computer eingegeben werden. Dabei ist heute schon Freitag, und Birgüls Flieger geht in wenigen Stunden.

Birgül steht am Bürofenster und einen Moment lang denkt sie ans Essen. Sie wird hungrig sein in Ostanatolien, das weiß sie. Mehr als einmal am Tag wird sie das Fasten nerven. Aber was ist schon ein Ramadan im Vergleich zu den letzten Wochen. Noch dieser eine Arbeitstag. Sie ist urlaubsreif, komplett.

Birgül Kurtbas, die schwarzen Haare straff nach hinten gebunden, geht zurück zum Schreibtisch und schiebt Papiere zur Seite. „Ehrlich gesagt, hier hat keiner geglaubt, dass wir das noch mal reißen. Und jetzt das. Der ganze Stress hat sich wirklich gelohnt.“

Unna – die Bastion

Seit neun Jahren arbeitet Birgül Kurtbas für die SPD in Unna, einen der größten Unterbezirke der Sozialdemokraten in ganz Deutschland. Die 34-Jährige macht die Buchhaltung, die Terminplanung für die Geschäftsführer und kartiert die mehr als 7.400 Mitglieder. Die Kleinstadt Unna ist eine der Bastionen, wo die Sozialdemokraten noch Ergebnisse einfahren wie andernorts nur die CSU. Wer hier nicht in der Partei ist, will nicht wirklich was von der Welt. „So seltsam das Ergebnis war, so unterschiedlich denken die Leute darüber“, sagt Birgül. „Aber die meisten bei uns, wirklich die allermeisten wollen die große Koalition. Damit was passiert.“

Unterm Fenster schieben sich die Leute durch die schmale Straße zum Markt. „Nein“, sagt Birgül in den Telefonhörer. „Bis um drei, sonst schaffen wir den Flieger nicht … nein … weißt du, wie viel Zeug hier noch liegt?“ Dann legt sie auf und schaut wieder für einen Moment aus dem Fenster. „In drei Wochen bin ich zurück. Ich bin ja mal gespannt, welche Regierung wir dann haben.“ Dann dreht sie sich zum Schreibtisch und arbeitet weiter – für eine Partei, die sie noch nie gewählt hat. Auch nach neun Jahren SPD-Mitgliedschaft – Birgül hat einen türkischen Pass.

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