Werner Rienäcker mit seiner Tochter Theresa: Bitterfeld-Fans Foto: Timo Lehmann

Auch Schornsteine sind Heimat

Ein Segler, ein Archäologe und eine Bürgermeisterin aus Bitterfeld – auf den Spuren des Wandels einer berüchtigten Stadt, deren Chemiekombinat die ganze Region verpestete

AUS BITTERFELD Timo Lehmann

„Wir sind ja eigentlich Schönwettersegler“, sagt Werner Rie­näcker. Es ist ein grauer Montag in Bitterfeld. Stühlerücken im oberen Geschoss des Bootshauses an der Goitzsche. 25 Segler sind zur Marina gekommen, um das Saisonende mit einer Regatta zu zelebrieren. In Regenjacken eingepackte ältere Damen und Herren, die der Einweisung von Hafenmeister Jörg Pietzsch folgen. Er teilt Kopien mit der Route aus: „Immer um die eingezeichneten Tonnen herum.“

Werner Rienäcker war bis voriges Jahr noch Geschäftsführer der Stadtentwicklungsgesellschaft. Er ist in Bitterfeld geboren, hat die gesamte Entwicklung der Stadt mitgemacht. Vor zehn Jahren hat er sich das Boot zugelegt und war damit ein Mann der ersten Stunde in der Marina. Heute sitzt er mit seiner Tochter Theresa am Start, kratzt sich am Hinterkopf und blickt aus dem Fenster. Hinter der beschlagenen Glasscheibe kaum zu erkennen: das neue Bitterfeld, der große Goitzschesee und der Regen. „Das wird ein ungemütliches Rennen“, sagt ein Mann mit Hornbrille. Rund zwei Stunden werden die Bootsfahrer durch die Herbstkälte segeln. Deshalb sind sie heute nach Bitterfeld an die Goitz­sche gekommen.

Die Goitzsche, ausgesprochen „Gotsche“, gilt als Symbol für den Wandel der sachsen-anhaltischen Stadt. 13 Quadratkilometer groß und beim Hochwasser 2002 über Nacht entstanden. Eigentlich sollten die bis zu 60 Meter tiefen Tagebaugruben ab 1998 innerhalb von zehn Jahren langsam und kontrolliert geflutet werden. Dann brach beim Hochwasser ein Damm der Mulde, und innerhalb von zwei Tagen stieg der Pegel des Sees um sieben Meter und drohte auch Bitterfeld weiträumig zu überfluten. Die Katastrophe als Chance von Bitterfeld. Bis 2006 wurde das Areal dann saniert, und Naturschutz- und Erholungsgebiete entstanden.

„Ich liebe diese Landschaft“, sagt Uwe Holz, Direktor des Kreis- und Industriemuseums. Der gelernte Archäologe steht auf dem kleinen Marktplatz, umgeben von Fachwerkhäusern und einer roten Backsteinkirche. Uwe Holz trägt einen grauen Dreitagebart, ein roter Hemdkragen liegt über seinem blauen Pullover. Der gebürtige Schwabe, 1992 kam er hierher, will von den ganzen Lästereien über Bitterfeld nichts mehr hören. „Trifft man sich nicht in dieser Welt, dann trifft man sich in Bitterfeld“, heißt es noch heute. Uwe Holz findet die Außendarstellung katastrophal: „Wir sind eben doch ein Teil in dieser Welt.“

Bitterfeld

Früher war es die dreckigste Stadt Europas. Heute aber sagen die Leute: In Bitterfeld zu leben sei wie Urlaub machen.

Bitterfeld galt einst als „dreckigste Stadt Europas“. Der Tagebau, das Chemiekombinat Bitterfeld – ein giftgrüner Himmel, schwefelgelb spuckende Schornsteine und von Asche bedeckte Häuserfassaden bestimmten das Stadtbild. Die Stadt gilt als Paradebeispiel für die Zerstörung der Umwelt infolge der Industrialisierung. „Sehen Sie denn nicht, wie sich die Stadt entwickelt hat?“, fragt Uwe Holz. Früher habe man seine weißen Hemden dreimal am Tag wechseln müssen, so dreckig sei es hier gewesen.

Uwe Holz sitzt in seinem kleinen Büro, voll mit Büchern und Bildern von Industriestädten. Er hört den Song „dirty old town“ von Evan MacColl. „Auch Schornsteine sind Heimat“, sagt er. Das soziale Leben in den schmutzigen Arbeitervierteln habe die Menschen zusammengeschweißt. Er singt mit: „I found my love where the gaslight falls. Dirty old town, dirty old town.“

Man müsse sich doch nur vorstellen, was es bedeute, wenn sich alles verändere. Ganze Dörfer wurden hier weggebaggert. „Die Goitzsche ist ein surrealer Ort“, sagt Uwe Holz. Wenn Bitterfeld etwas könne, dann sei es der Wandel. Die Einwohnerzahl von Bitterfeld-Wolfen hat sich im vergangenen Vierteljahrhundert nahezu halbiert. Die Region hatte zu kämpfen mit den wirtschaftlichen Umbrüchen; 1990 gingen fast 50.000 Arbeitsplätze in der Region verloren. Eine Goldgräberstimmung erreichte die Stadt Anfang der 2000er Jahre. Bitterfeld sollte wieder zur Avantgarde der Kraftwerktechnik werden. Sauber, dieses Mal. Mit über 40 Millionen Euro Fördersumme entstand 2001 das Solarunternehmen Q-Cells. 2012 kam die Pleite, inzwischen werden die Solarkraftmodule in Malaysia produziert – das „Solar Valley“, wie die Bitterfelder es nannten, ein Millionengrab. Trotzdem geht es der Stadt Bitterfeld-Wolfen wirtschaftlich heute vergleichsweise gut. In der Stadt steht einer der größten Chemieparks Deutschlands, auf dem 14.000 Menschen wieder Arbeit gefunden haben. Der Pharmakonzern Bayer produziert hier Aspirin, das in die ganze Welt exportiert wird. Die Arbeitslosigkeit ist mit 7 Prozent vergleichsweise gering. Jeden Tag pendeln inzwischen 4.000 Menschen zum Arbeitsplatz an die „Industriestadt am See“, wie sie für sich wirbt.

Jedes Wochenende läuft Uwe Holz mit seinem Sportverein Bitterfeld 2000 zwölf Kilometer am Ufer entlang. Mit seiner Kamera dokumentiert er den Wandel. Auch die Tiere kommen langsam zurück. Der Marathonläufer spricht schnell, enthusiastisch: „Wohnen, wo andere Urlaub machen, das denke ich mir dann immer.“ Jedes Jahr kommen Hunderttausende aus der Region zum Besuch an die Goitzsche. Wenn Uwe Holz an der Promenade vorbei in die Wälder läuft, trifft er auf Skater, Spaziergänger und Radfahrer.

„Viele, die hier wohnen, sehen gar nicht, was sich hier getan hat“, sagt auch Segler Werner Rienäcker. Er sitzt mit seiner Tochter auf der kleinen Yacht. Sie trägt den Namen der Tochter, „Theresa“. Gut eine Stunde sind sie nun schon im Regen mit kalten Füßen unterwegs. Beim Absegeln sind an diesem verregneten Tag nur zwölf Boote angetreten, der sportbegeisterte Kern der Anleger an der Marina.

Jedes Jahr kommen inzwischen Hunderttausende aus der Region zum Besuch an die Goitzsche

„Das Boot ist für eine Regatta zu schwer“, sagt Werner Rie­näcker. Zwei Tonnen wiegt das kleine Schiff, es misst sechs Meter und trägt einen acht Meter hohen Mast – die „Theresa“ dient mit der kleinen Kajüte eher für Erholungsfahrten denn für sportliche Rennen. Für Hobbysegler bietet das Gewässer optimale Bedingungen: keine Hügel, die den Wind aufhalten, viel Fläche für lange Fahrten. 114 Boote liegen hier, die Stege voll besetzt. Bis aus Bayern kommen Bootsbesitzer für die Wochenenderholung.

Werner Rienäcker zieht sich die Kapuze ins Gesicht. „Wir segeln ja nur zum Spaß, aber Letzter wollen wir nicht sein“, sagt er. Er reißt hektisch das Steuer her­um. Tochter Theresa kurbelt die Leinen. Das Boot kippt zur anderen Seite. Doch der Wind weht nicht, das Segeltuch schlackert. Ein Konkurrent gleitet vorbei. Weiterkurbeln, dann bläht der Wind in das Segel. Die Wende ist gefahren, Vater und Tochter nehmen wieder Kurs auf.

Werner Rienäcker, studierter Ingenieur, arbeitete mit vielen anderen an dem neuen Konzept für den See, der Promenade mit ihren Cafés und Restaurants. „Die Bitterfelder wollen Veränderung, aber wenn man bei ihnen vor der Tür eine Straße aufgerissen wird, dann klagen sie.“ Die Erwartungshaltung an die Politik sei viel zu groß.

15. Dezember 1989: Der VEB Chemisches Kombinat Bitterfeld prägt bis heute das Bild Foto: Paul Langrock/Zenit

An einem anderen Ort sitzt Petra Wust, Bürgermeisterin von Bitterfeld-Wolfen, in ihrem holzgetäfelten Büro im Rathaus. Ein pompöser Sandsteinbaubau aus den Jahren der Nazizeit diente früher der Geschäftsführung der Filmfabrik Wolfen „Orwo“. Es sind ihre letzten Tage im Amt. Die Politikerin setzt sich an ihren langen Tisch. Dokumente vor ihr. Unterschreiben. Verwalten.

Am 23. Oktober wird ihr Nachfolger gewählt. „Die wollen natürlich alles anders machen“, sagt Petra Wust. 25 Jahre arbeitete die Ökonomin in der Stadtverwaltung. Zu ihrem Amt als Bürgermeisterin kam sie 2004 eher zufällig, nachdem sie die Vertretung ihres erkrankten Vorgängers in Wolfen übernahm und sich dann zur Wahl stellte. 2007 fusionierten die Städte Bitterfeld und Wolfen, Wust setzte sich in der Stichwahl durch und war von da an Verwaltungsoberhaupt einer 40.000-Einwohner-Stadt.

Die parteilose Politikerin stört sich vor allem an der Außendarstellung der Stadt. Die Aufregung war groß, als im März die AfD in Bitterfeld-Wolfen mit 33 Prozent ihr bestes Ergebnis in Sachsen-Anhalt einfuhr. Fernsehteams aus ganz Europa reisten ein. Für besonders viel Aufregung sorgte ein Videobeitrag von Spiegel Online, der den Titel „Wo der Frust wohnt“ trägt. Das Video mit den drastischen rechten Äußerungen wurde auf Facebook rund vier Millionen Mal abgerufen. „Man hat dabei wohl vergessen, die anderen zwei Drittel der Stadt auch zu befragen“, kommentiert Petra Wust die Berichterstattung.

„Trifft man sich nicht in dieser Welt, dann trifft man sich in Bitterfeld“

Der Rummel könnte sich nun wiederholen: Uwe Ziegler, AfD, will Bürgermeister werden. Dem Unternehmer gehören Geschäfte in der Innenstadt, er will statt Goitzsche und Industriepark „wieder mehr für die Innenstadt tun“.

Theresa und Werner Rie­näcker stehen vor dem Bootshaus und schauen auf das Regatta-Ergebnis, das Hafenmeister Pietzsch ans Fenster gepinnt hat. Familie Rienäcker hat den neunten Platz belegt. Es regnet nicht mehr, die Sonnenstrahlen brechen die Wolken. Theresa zieht nun nach Halle an der Saale, um ihren Master zu machen. Drei Jahre studierte sie in Lyon, aber die Mieten waren hoch und ihr fehlte die Natur. „Ich dachte immer, man muss hier weg, aber muss man gar nicht.“

Die AfD wirbt in Bitterfeld auf Plakaten mit dem Slogan „Zeit für Veränderung“. Petra Wust steht am großen Fenster und schaut auf ihre verregnete Stadt: „Wie viel Veränderung soll Bitterfeld denn noch bekommen?“