Wirtschaftskrise in Russland? Abwarten und Wodka trinken

Konjunktur Die Realeinkommen sinken, aber die Russen verlieren nicht den Mut

Nur ein abrupter Einbruch des Lebensstandards würde die Stimmung kippen

MOSKAU taz | „Im Monat verkaufe ich noch zwei, drei teurere Paare Schuhe“, sagt die junge Dame in einem größeren Moskauer Schuh- und Lederwarengeschäft. Das sei ungewöhnlich, weil Russinnen Wert auf elegantes Schuhwerk legten, meint die 32-Jährige. Die meisten Kunden greifen inzwischen zu praktischen Schuhen aus synthetischem Material. Aus dem „günstigen Preissegment“, sagt sie vorsichtig. Die Schuhbranche klagt, der Umsatz sei in diesem Jahr um die Hälfte eingebrochen.

Seit fast zwei Jahren nehmen die Realeinkommen in Russland ab. Im August erreichte der Einbruch mit 8,3 Prozent den tiefsten Stand seit Krisenbeginn. Mehr als die Hälfte der Russen kann keine größeren Anschaffungen mehr machen.

Laut der jüngsten Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum spüren 82 Prozent der Russen die Auswirkungen der wirtschaftlichen Malaise mittlerweile. Vor zwei Jahren waren es noch 61 Prozent. Ein Viertel der Befragten geht von einer „sehr langen“ und „anhaltenden“ Krise aus.

Dennoch verlieren die Russen nicht den Mut. Fast die Hälfte hält es für ausgeschlossen, dass Löhne wie nach dem Staatsbankrott 1998 nicht mehr gezahlt würden. 17 Prozent haben unterdessen die Erfahrung schon mal gemacht. Auch nur 44 Prozent fürchten in der Krise arbeitslos zu werden.

„Nur ein abrupter Einbruch des Lebensstandards wirkt sich auch auf die öffentliche Meinung aus“, erklärt der Soziologe Alexei Graschdankin vom Lewada-Zentrum. Je schleichender der Einschnitt erfolgt, desto besser passen sich die Bürger an.

Grund für die Gelassenheit der Russen sei die Überzeugung, hinter der Krise stünden feindselige Kräfte aus dem Ausland, meint der Soziologe Leonti Bysow von der Russischen Akademie der Wissenschaften. Die westlichen Sanktionen und der Ölpreisverfall werden für die Krise verantwortlich gemacht. Strukturelle Probleme der rohstoffabhängigen Wirtschaft werden in Russland nur selten angesprochen. „Die Menschen erwarten keine Lohnkürzungen, da sie darauf vertrauen, dass die verantwortlichen Politiker so etwas nicht zulassen“, sagt Bysow.

2015 war das Wachstum der russischen Wirtschaft um 3,7 Prozent eingebrochen. Das Bruttoinlandsprodukt sank im ersten Halbjahr 2016 noch mal um fast ein Prozent.

Eine Erhebung des staatlichen VZIOM-Instituts kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie das Lewada-Zentrum. Demnach ist der Höhepunkt der Krisenwahrnehmung zur Jahreswende 2015/16 überschritten worden. Seither passt sich der Bürger an. Die wirtschaftliche Lage sei nicht besser, der Verbraucher habe jedoch mit den schwierigeren Bedingungen Frieden geschlossen, erläutert Ruslan Abramow vom Moskauer Plechanow-Institut. Seit der Krise verschiebt sich auch die Wahrnehmung weg vom Konsum hin zu existenzielleren Belangen: Nun zähle auch wieder, dass einen Tod, Krankheit und Arbeitslosigkeit verschone. Solange sei alles gut, meinen Arbeitsmarktexperten. Die Bürger richteten sich auf eine längere Krise ein, gingen mit Geld rationaler um und würden es auch vorsichtiger ausgeben.

Inzwischen setzt jedoch auch auf der föderalen Ebene ein Verteilungskampf zwischen den Regionen ein. Reiche sollen ärmeren etwas abgeben. Die Zahl der Bedürftigen, die unter die Armutsgrenze rutschten, nahm mit der Krise zu. In mehr als 20 Subjekten der Russischen Föderation wächst deren Anteil. In den fernen Republiken Tuwa, Inguschetien oder Kalmückien ist sogar mehr als ein Drittel der Bevölkerung von Armut betroffen. Klaus-Helge Donath