: Um zehn wird die Zeit abgestellt
HOFFEN UND HARREN Adventskalender sind ewig jung – fast so wie die „immerwährenden Kalender“ der Bauern. Erst recht, wenn sie bis zum 6. Januar reichen und einen sicher durch die gefährlichen 12 Rauen Nächte leiten
VON PETRA SCHELLEN
Jetzt sitzen wir schon mitten drin im Advent, am Sonntag ist schon der zweite. Darf man da überhaupt noch über Adventskalender schreiben? Ja, man darf, denn nicht nur in der Bibel steht, der Weg sei das Ziel. Außerdem ist die Adventszeit sowieso symbolisch gemeint: als Beispiel für das warmherzig-nächstenliebende Verhalten, das man ganzjährig an den Tag legen sollte.
Die Langeooger zum Beispiel haben das verstanden: Schon im Sommer haben sie unter den Urlaubern Werbung für ihren besonderen Adventskalender gemacht. Der dortige Rotary Club hat ihn initiiert, und vorn ist ein Bild des verschneiten Langeoog drauf – sicher auch als kleine Werbung für einen zu planenden Langeoog-Winterurlaub gedacht. Aber da sind eben auch 24 Türchen zu öffnen und eine Verlosung, deren Erlös an den „Elternverein für krebskranke Kinder und ihre Familien Wilhelmshaven-Friesland-Harlingerland“ geht. Die Preise der Verlosung muss man persönlich auf Langeoog abholen: eine schlaue Verbindung von Wohltätigkeit und Werbung, aber das stört mit Blick auf das große Ziel hier nicht.
Denn Zeit ist relativ, das steht auch im Din-A-4-großen Adventskalender des christlichen Hamburger Verlags „Andere Zeiten“, der ganzjährig Bücher, Broschüren und Magazine herausgibt, die durch Trauer und Meditation, aber auch durch den Advent leiten. „Der Andere Advent“ heißt deren Advents-Wandkalender aus Texten und Bildern, und er ist so dezent christlich, dass man sich nicht bevormundet fühlt: Dichter von Brecht über Kafka bis zu Paz, Kirchenlied-Dichter wie Paul Gerhardt und mittelalterliche Äbte wie Bernhard de Clairvaux sind da mit Texten vertreten. Dazu gibt es muntere oder ruhige Fotos und nette gemalte Bilder.
„Von 10 Uhr bis 10.10 Uhr wird morgen die Zeit abgestellt. Bitte berücksichtigen Sie das bei Ihren Planungen“, steht da zum Beispiel. Ein interessanter Gedanke, denn mal ehrlich: Kann, könnte man die Zeit nicht jederzeit im Kopf abstellen, und sie so ungültig machen? Und tut man nicht genau das im Moment der totalen Konzentration?
Und wie verhält es sich mit dem ästhetischen Empfinden: Hängt es von der Umgebung ab, ist es an sie gebunden? Wie unabhängig ist der Mensch von Image und sonsterlei Einflüsterungen? Die Washington Post hat hierzu ein im „Anderen Advent“ zitiertes Exempel gestartet: Sie ließ im Jahr 2007 den renommierten Violinisten Joshua Bell an einem Januartag an einer Washingtoner U-Bahn-Haltestelle Bachs komplexe „Chaconne in d-Moll“ spielen. Wenige Leute blieben stehen, 32 Dollar landeten in seinen Hut.
Tags zuvor hatte er dasselbe Stück im Frack in der ausverkauften Bostoner Konzerthalle gespielt. Für 100 Dollar pro Platz; alles ausverkauft. Ja, da fühlt man sich vielleicht auch selbst ertappt und nimmt sich sofort vor, genauer hinzusehen und -zuhören, bevor man irgendein Urteil fällt.
Oder wie wär’s mit dem Spruch: „Verbringe nicht die Zeit mit der Suche nach einem Hindernis. Vielleicht ist keins da“ von Franz Kafka, der das wohl auch für sich selbst geschrieben hat. Ähnlich argumentiert ja Paul Watzlawick in seiner – in den 1990ern erschienenen – süffisantern Glücks-Fibel „Anleitung zum Unglücklichsein“.
Denn das soll dieser Kalender, das sollen alle Schriften des Andere-Zeiten-Verlags eigentlich sein: kleine Wecker, die einen herausreißen aus dem Dämmerschlaf der Routine. Das kann übrigens durchaus auch das Kirchenvolk selbst betreffen: Eine Pfarrerin hat darin zum Beispiel die Geschichte ihrer heimischen Krippe aufgeschrieben: Die wurde schon im Advent aufgestellt, und jede Woche sollte eine der bekannten Figuren dazukommen: Ochs, Esel, Schaf, Hirte und so weiter.
Plötzlich standen aber auch Pinguin, Seehund und Legobaum da. Es folgte ein scharfes Mutter-Tochter-Verhör, das mit dem kleinlauten Rückzug der Mutter endete. Sie selbst habe doch gesagt, an die Krippe könne jeder kommen, sprach nämlich das kluge Kind. „So war das aber nicht gemeint“, wollte Mutter Pfarrerin schon sagen, „nur im vorgesehenen Rahmen“ – und stoppte gerade noch rechtzeitig.
Rahmen? Ja, genau. Der Rahmen der Sturheit, den man täglich neu zimmert. Dieser Kalender, der übrigens bis zum orthodoxen Weihnachten am 6. Januar reicht, versucht ihn ein bischen zu sprengen. Und hat einen außerdem ganz unauffällig durch die mancherorts als so gefährlich geltenden 12 Rauen Nächte geführt. Durch einen verlängerten Advent, sozusagen. Und wer sich ganz direkt und live über seine diesjährigen Advents-Erlebnisse und -stimmungen austauschen mag, kann das im Inernet-Forum des Verlags tun unter: www.forum.anderezeiten.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen