Identitäten Die Entscheidung in Großbritannien, die EU zu verlassen, hat vielen Menschen erst bewusst gemacht, dass sie bereits eine europäische Identität haben. Und haben wollen
: Das Europäische in uns

Polen. Zwanzigstes Jubiläum des Haltestelle-Woodstock-Festivals in der deutsch-polnischen Grenzstadt Küstrin. Ein Schlammbad ist Teil der Festivaltradition Foto: Maciek Nabrdalik

Von Dirk Knipphals

Es war der 23. Juni und ich weiß noch, dass ich mich selten so europäisch gefühlt habe wie an jenem Tag. Es war heiß gewesen, die Vorrunde der Fußballeuropameisterschaft war gerade vorbei und die ersten Auszählungen zum Brexit signalisierten einen Verbleib der Briten in der EU. Beruhigt ging ich ins Bett, doch die ersten Nachrichten des nächsten Tages aus London las ich mit einem Schock.

Vielleicht sollte man Europa fortan von dem irritierenden Augenblick aus denken, in dem einem klar wurde, dass der Austritt Großbritanniens beschlossen worden war. Ich spürte: Das hier ging jetzt nicht mehr um das Europa der Appelle und der Sonntagsreden. Das zielte auf die direkte Lebenswelt und die unmittelbare Art und Weise, wie man leben will. Es betraf etwas Eigenes. Für einen Moment schwankten die inneren Fundamente.

Die Autorin Laurie Penny, die mit ihrem queeren, linken Habitus bestimmt nicht zu denen zählt, die die EU unkritisch befürworten, hat das gut auf den Punkt gebracht. Sie schrieb: „Ich will mein Land zurück.“ Das war, schrieb sie weiter, kein Referendum über die EU, sondern eines über die moderne Welt. Offenheit, Toleranz, faires Miteinander, das ist für diese Autorin mit Europa verbunden. Und während man das las, antwortete etwas darauf. Kritik an der EU, an Regelungswahn, Demokratiedefiziten und Abschottung: klar, sehr wichtig. Aber soll es jetzt wirklich wieder um Grenzen und Nationalstaaten gehen? Soll es wieder historisch einen Schritt zurückgehen?

In der Nacht vom 23. auf den 24. Juni war Europa verletzbar geworden und die eigene Welt enger. Gerade dadurch, dass es einen berührte, stellte man fest, wie selbstverständlich europäisch man längst ist.

Inzwischen ist dieser Tag drei Monate her. Deutschland ist mit der AfD und dem sich formierenden Bundestagswahlkampf beschäftigt. Aber gerade da ist es gut, der Erschütterung noch einmal nachzuspüren, denn das Europäische wird in nächster Zeit vielen Herausforderungen ausgesetzt sein.

Es war Jutta Limbach, die kürzlich verstorbene ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, die vor vier Jahren in einem großen Artikel bündig feststellte: „Es gibt keine europäische Identität“ – und es könne auch keine geben. Die EU erklärte sie zu einem von den politischen Eliten initiierten Vernunftprojekt, das den Leuten immer noch vermittelt werden müsse. Ihre Position ist ­gegen die des Philosophen Jürgen Habermas gewendet, der ja immer wieder darüber nachdenkt, wie man so etwas wie einen europäischen Bürgersinn herstellen könnte. Und ihre Position ist Konsens unter unseren Spitzenpolitikern. Dass Europa immer noch etwas von oben Inszeniertes hat und von den Menschen noch nicht selbstverständlich getragen wird, steht auch in dem aktuellen Europa-Buch Frank-Walter Steinmeiers.

Ich bin mir da allerdings nicht sicher. Tatsächlich kann einem Habermas in seiner Utopie eines Bürgersinns sehr papieren vorkommen. Zugleich aber hat Limbach einen zu engen Identitätsbegriff. In ihrem Text schreibt sie selbst, dass man als EU-Bürger verschiedene Identitäten haben muss. Man muss sich deutsch, französisch, polnisch usw. und zugleich europäisch fühlen können.

Es ist fruchtbar, in diese Richtung noch etwas weiter zu denken. Eine in sich geschlossene, feste europäische Identität gibt es dann nämlich nicht. Aber doch konkret gelebte Identitäten, in denen das Europäische eine Rolle spielt. Und zwar nicht einfach als ein Bestandteil unter anderen, sondern als Grundvoraussetzung. Das Europäische an der eigenen Identität ist dann, dass man sich eine enge Identität gar nicht anziehen muss. Man braucht sich nicht so festzulegen lassen von seiner Herkunft. Man hat viel mehr Möglichkeiten, sich, ja doch, ein Stück weit selbst zu erfinden.

Das klingt vielleicht abstrakt, ist es aber nicht. Nach neueren Identitätstheorien wie etwa der des französischen Soziologen Jean-Claude Kaufmann muss man sich Identität als Prozess vorstellen, der eben nicht von außen vorgegeben wird, sondern in dem die einzelnen Menschen ihrem Leben immer wieder aufs Neue und teilweise auch nur versuchsweise eine Einheit geben. Das ist anstrengend, ermöglicht aber Emanzipationsgewinne bis hin zu den Punkten, an denen für Frauen und Männer ein Leben ohne Kinder genauso selbstverständlich ist wie eins mit Kindern und man nicht von vornherein auf seine Religion, seine Herkunft, seine Klasse, seine Abstammung oder seine sexuelle Orientierung festgelegt wird. In diese Richtung zielt auch der Begriff der modernen Welt bei Laurie Penny.

Nun läuft die Argumentation in diesem Text, zugegeben, viel zu glatt durch. Nach dem 23. Juni wurde viel diskutiert, dass gerade die Abgehängten des Modernisierungsprozesses im Brexit ihre Stimme erhoben. Solche sozialen Fragen sind natürlich in ihrer sozialen Sprengkraft nie zu unterschätzen. Wenn man auf den Punkt der Identität guckt, kann man die Auseinandersetzung um Europa – die um den Brexit und die, die noch kommen werden – aber auch anders lesen: als Kulturkampf darum, wie selbstständig und eigensinnig Individuen leben können sollen.

Dass man in diesen Debatten die europäischen Errungenschaften gegen neurechtspopulistische Identitätspolitiken – die den Einzelnen wieder auf die Abstammungsgemeinschaft zurückführen wollen (Frauke Petrys Verharmlosung des Begriffs „völkisch“ zielt in diese Richtung) – verteidigt, ist ja klar. Aber auch bei den Linken besteht Reflexionsbedarf.

Viele linke Beobachter verknüpfen Globalisierung und Internationalismus mit Neoliberalismus und setzen so die Freiheitsgewinne europäisch weit gedachter Identitäten automatisch mit Neoliberalismus gleich. Es würde sich aber sehr lohnen, ehrlich anzuerkennen, wie europäisch wir längst leben – wollen.