Europaküche Die europäischen Grenzen sind offen. Aber wenn es ums Essen geht, wird streng getrennt. Unser Autor will den Kontinent mit dem Kochlöffel retten
: Weißbrot ist banal

Illustration: Juliane Pieper

Von Philipp Mausshardt

Mein kulinarisches Erweckungserlebnis hatte ich in Frankreich. Ich ging noch zur Schule, wohnte nicht allzu weit von der Grenze entfernt und fuhr in jeden Ferien mit einem Motorroller irgendwohin, nur um zu fahren.

Mir gefiel die Lebenshaltung der Franzosen; diese Schmuddeligkeit im Aufzug in Verbindung mit Genusssucht, diese Lockerheit auf der Straße in Verbindung mit absoluter Strenge am Kochtopf. Wenn ich Hunger hatte, hielt ich an, ging in ein Restaurant und deutet mit dem Finger auf ein Gericht, weil ich die Karte nicht lesen konnte. Merkwürdige Dinge wurden mir vorgesetzt, von denen ich nicht einmal wusste, dass es sie gibt – geschweige denn, dass man sie essen konnte: gebratene Wachteln, Schnecken in Knoblauchbutter, gratinierte Austern oder Rillette von der Ente.

Einmal landete ich in einem ziemlich abgewetzten Gasthof, der alte Wirt roch nach Alkohol und außer mir war kein Gast im Lokal. Nach einer halben Stunde servierte er mir ein Huhn in einer Weinsauce, so sensationell gut, wie ich noch nie zuvor etwas gegessen hatte. Ich weiß bis heute den Namen des Dorfes: St. Félix. Zu deutsch etwa: heiliges Glück.

Das Überschreiten von europäischen Grenzen ist seit diesem Erlebnis viel leichter geworden. Doch selbst wenn niemand mehr deinen Pass sehen will – auf der anderen Seite wartet noch immer ein neuer Geschmackhorizont. Und auch die Gastronomie des Jahres 2016 funktioniert noch immer so, als lebten wir in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Wir gehen entweder „zum Italiener“ oder „zum Griechen“ als kämen wir gerade aus unserem ersten Rimini- oder Kretaurlaub zurück.

Es gibt, 23 Jahre nach Gründung der EU, keine europäische Küche.

Im Gegenteil: Je durchlässiger die Grenzen wurden, desto chauvinistischer achteten die nationalen Küchenmeister auf deren Einhaltung. Ein Italiener, der spanisches Olivenöl servieren würde, und wäre es noch so gut, muss mit dem Entzug seiner Staatsbürgerschaft rechnen. Einem Franzosen, der einen polnischen Borschtsch auf die Karte setzt, würde der Michelin-Stern entzogen. Crossover war nie ein europäischer Küchentrend, meist war damit nur eine asiatische Anspielung gemeint.

Schade eigentlich.

Denn viele Rezepte, die wir heute als nationale Ikonen kennen, sind durch grenzüberschreitende Erfahrungen entstanden. Königsberger Klopse gäbe es nicht, hätten hanseatische Händler nicht Kapern aus Südeuropa mitgebracht. Wer glaubt, die Orangen der ach so berühmten „Olde English Thick Cut Marmalade“ wären auf der Insel gewachsen, irrt.

Und es waren italienische Küchenmeister, die den Franzosen im 16. Jahrhundert die Verwendung von Kräutern und raffinierte Gartechniken beibrachten und so den Weg zur Haute Cuisine ebneten. Denn als Heinrich II. die toskanische Erzherzogin Caterina de’ Mediciheiratete, brachte diese einen ganzen Tross Köche aus Florenz mit nach Paris. Bis dahin war es in Frankreich nicht unüblich, während des Essens ins Tischtuch zu schnäuzen.

Es wird wohl noch lange dauern, bis vor einem Restaurant ein Schild stehen wird: transeuropäische Küche. Heute würde kein Mensch ein solches Lokal betreten, weil niemand wüsste, was ihn dort erwartet. Vermutlich das Grauen: Nudeln, von einem schwedischen Koch zu Matsche verkocht und mit portugiesischer Wurst belegt, dazu ein griechischer Hirtensalat aus holländischen Tomaten.

Zutaten Coq au vin: 1 Hühnchen (ca. 1,5 kg), 1 Flasche Rotwein, 150 g Speck, 200 g Champignons, 1 Zwiebel, 2 Karotten, 2 Knoblauchzehen, ½  l Brühe, 1 Schnapsglas Cognac, Salz, Pfeffer, Mehl

Zubereitung Coq au vin: Das Hühnchen am Vorabend mit den Zwiebeln (gehackt), den Karotten (in Scheiben) und dem Wein marinieren. Am nächsten Tag die Marinade abgießen und aufbewahren. Das Hühnchen mit Küchenkrepp trocken reiben und in seine Einzelteile zerlegen, diese in einer schweren Pfanne in Öl oder Butterschmalz goldgelb anbraten. Herausnehmen und das Gemüse aus der Marinade im gleichen Fett anbraten. Nach fünf Minuten einen gehäuften Esslöffel Mehl darüber stäuben, den gehackten Knoblauch und dann die Hühnchenteile dazugeben, schließlich den Cognac drüberschütten und anzünden. Mit der Marinade aufgießen, die Brühe dazu, salzen, pfeffern und mindestens zwei Stunden bei niedriger Hitze und geschlossenem Deckel simmern lassen. Champignons und Speck würfeln, in einer separaten Pfanne gut anbraten und dann noch 15 Minuten mit dem Hühnchen zusammen fertig garen.

Die Polenta: 300 Gramm Maisgries in 1¼ l kochendes Wasser geben und unter ständigem Rühren bei mittlerer Hitze garen (ca. 30 Minuten). Etwas Salz, Muskat und 2 Esslöffel Butter zufügen und auf ein geöltes Holzbrett stürzen. Mit einem eingeölten Messer glatt streichen und zugedeckt kalt werden lassen. Später dann in Scheiben schneiden und in etwas Butter knusprig braun braten.

In den kommenden Monaten will ich an dieser Stelle den Versuch unternehmen, Europa mit dem Kochlöffel zu retten; finnischen Stockfisch mit apulischen Tomaten zu versöhnen; schwäbische Maultaschen mit spanischer Chorizofüllung zu perfektionieren. Wir können, zumindest kulinarisch, die Grenzen einreißen.

Jener Coq au vin, Klassiker der französischen Küche, der mich in den 70er-Jahren aus meinem Mehlsaucen-Dornröschenschlaf riss, hatte nämlich einen entscheidenden Nachteil. Das mit viel Flüssigkeit servierte Huhn wird in der Regel mit Weißbrot gegessen. Irgendwie muss die Sauce ja aufgesogen werden. Doch Weißbrot ist banal. Man könnte auch in einen alten Schwamm beißen. Da gibt es bessere Lösungen, europäische Lösungen.

Viele Jahre später saß ich in einem Landgasthof im schweizerischen Engadin und aß eine angebratene Polenta. Plötzlich wusste ich: Diese goldgelbe Maisschnitte wäre die ideale Begleitung zu jenem Huhn gewesen. Außen schön kross, innen butterzart sog die Polenta die Sauce auf wie Küchenkrepp.

„Europäische Küche“ gilt heute noch als Drohung. Das muss sich ändern.

Die Genussseite: Philipp Maußhardt vereinigt auf dieser Seite jeden Monat die Küchen Europas. Außerdem im Wechsel: taz-AutorInnen machen aus Müll schöne Dinge oder treffen sich mit Flüchtlingen zum gemeinsamen Kochen und Jörn Kabisch befragt Praktiker des Kochens.