: Davonlaufen gilt nicht
Kino Das Festival von San Sebastián hat die Auseinandersetzung mit politischer Gewalt, auch mit der ETA, als einen Schwerpunkt gesetzt. Innere Dämonen gab es auch viele zu sehen
von Thomas Abeltshauser
Es rumort gewaltig in der spanischen Gesellschaft, die politischen Verwerfungen sind auch auf dem Samstagabend zu Ende gegangenen Filmfestival in San Sebastián zu spüren. Bereits bei der Eröffnungsgala gelang es Protestierenden im Saal und auf der Bühne mit Plakaten und Zwischenrufen für die Freilassung erkrankter Häftlinge der früheren baskischen Terror- und Separatistenorganisation ETA zu demonstrieren. Die Stimmung in der Stadt ist zusätzlich angeheizt durch die am Sonntag abgehaltenen Regionalwahlen im Baskenland. Die Stadt ist mit Wahlplakaten gepflastert, vor allem ein Gesicht fällt immer wieder auf. Arnaldo Otegi, der erst im März aus der Haft entlassene Exterrorist und nun Spitzenkandidat der ETA-Nachfolgepartei EH Bildu, obwohl unklar ist, ob er bereits wieder politische Ämter übernehmen darf.
Das Ende der Gewalt ist in Spanien noch nicht so lange her, und die Auswirkungen sind noch immer spürbar. Erst vor fünf Jahren erklärte die ETA den bewaffneten Kampf für beendet, bei dem im Laufe der Jahre über 800 Menschen ums Leben kamen. Auf dem Filmfestival spürt der Dokumentarfilm „El fin de ETA“ den monatelangen Verhandlungen zur Auflösung der Terrorgruppe nach, es kommen Angehörige der Opfer ebenso zu Wort wie mehr oder weniger geläuterte Täter, auch Otegi. Interessanterweise ist es ein britischer Filmemacher, Justin Webster, der sich nüchtern und ausgewogen den politischen Verstrickungen widmet in einer Region, in der der Frieden durch Schweigen und Vergessen erkauft wurden.
Kontrovers diskutiert
Das nach Cannes, Berlin und Venedig wichtigste Filmfestival zumindest tut das seine, um diese jüngste Vergangenheit aufzuarbeiten. San Sebastián ist in diesem Jahr neben Wrocław Europäische Kulturhauptstadt und hat die Auseinandersetzung mit politischen Konflikten und Gewalt, auch im eigenen Land, als einen Schwerpunkt gesetzt. Die Retrospektive „The Act of Killing. Cinema and Global Violence“ etwa zeigte einige kontroverse Dokumentarfilme über die ETA, die bei den Publikumsdiskussionen für teils heftige Reaktionen sorgten.
Auch etliche aktuelle Spielfilme aus Spanien beschäftigen sich mit den Geistern der jüngeren Geschichte. Der Korruptionsthriller „El hombre de las Mil Caras – Der Mann der tausend Gesichter“ handelt von einer der schillerndsten Figuren des Post-Franco-Spaniens. Francisco Paesa (Eduard Fernandéz wurde bei der Preisverleihung am Samstag dafür als Bester Darsteller ausgezeichnet) war Geschäftsmann, Geldwäscher, Waffenhändler und Spion, der mit irren Winkelzügen 1,5 Milliarden Pesos öffentlicher Gelder außer Landes schaffte und damit ein ganzes Land an der Nase herumführte. Regisseur Alberto Rodríguez liefert ein raffiniertes Spiel um Fiktion und Wahrheit, das mit den Mitteln des Genrekinos den Sumpf der spanischen Gesellschaft reflektiert. Er erweist sich damit nach seinem preisgekrönten Noir-Thriller „La isla minima – Mörderland“ über Frauenmorde im Provinzsumpf kurz nach Francos Tod erneut als einer der derzeit interessantesten Filmemacher des Landes.
Ein weiterer Thriller, „Que Dios nos perdone – Möge Gott uns verzeihen“, der den Preis für das Beste Drehbuch erhielt, nutzt den mit Demonstrationen und 1,5 Millionen Pilgern beim Papstbesuch aufgeheizten Sommer 2011 in Madrid, um die Suche nach einem perversen Serienmörder zu erzählen. Die Hüter des Gesetzes erweisen sich als kaum weniger korrupt und innerlich kaputt als der gesuchte Killer.
Andere spanische Regisseure suchen innere Dämonen gleich in fernen Welten. Der 13-jährige Junge in J. A. Bayonas englischsprachigem Fantasymärchen „Sieben Minuten nach Mitternacht“ begegnet in seinen Albträumen immer wieder einem furchterregenden Baummonster, das sich bald als Kreatur gewordene Chance des Jungen entpuppt, seine Ängste angesichts der unheilbaren Erkrankung seiner Mutter zu überwinden.
Dem eigenen Biest stellen
Auch Nacho Vigalondo externalisiert in seinem schrägen Monsterfilm „Colossal“ allzumenschliche Neurosen auf ein bestialisches Anderes. Anne Hathaway spielt eine kanadische Partygöre, der die Kontrolle über ihren Alkoholkonsum so gehörig entglitten ist, dass sie damit ihre Beziehung zerstört. Als sie aus den Nachrichten von einem gigantischen Ungeheuer erfährt, das in Seoul wütet, wird ihr schnell klar, dass es eine seltsame Synchronität zwischen ihr und diesem Ding gibt. Jede ihrer Bewegungen sorgt am anderen Ende der Welt für Erschütterungen und Tote. Um dem ein Ende zu setzen, muss sie sich ihrem eigenen Biest stellen, davonlaufen gilt nicht.
Zum Fluchtpunkt dagegen ist auch für viele Basken Berlin geworden, und das nicht erst in den vergangenen Jahren. Bereits 1941 versteckte sich der baskische Präsident José Antonio Aguirre unerkannt hier, geflohen aus seiner von Franco okkupierten Heimat. Die junge Regisseurin Maider Oleaga verbindet in ihrem Dokumentarfilm „Iragan Gunea Berlin“ seine Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit mit dem Porträt fünf junger Auswanderer, die jetzt in Berlin leben, abseits der Krise ihrer alten Heimat. Die Stadt bleibt für sie wie für Aguirre Zwischenstation auf der Suche nach sich selbst. Allein und nicht wirklich angekommen, erweist sich die Anonymität als Freiheit und Fluch zugleich. Und auch ihnen wird klar, dass sich die Schatten der Vergangenheit nicht einfach abschütteln lassen.
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