: Grübelsucht als Tugend
Judit Polgar misst sich bei der Schach-WM mit den besten Männern. Die Ungarin hat freilich keine Chance auf den Titel, weil es ihr an Besessenheit und Willenskraft fehlt – wie sie selbst einräumt
VON HARTMUT METZ
„Es gibt keine einzige Frau, der ich nicht einen Springer vorgeben könnte und trotzdem gewänne“, tönte einst Bobby Fischer. Der legendäre Weltmeister von 1972 weiß sich zwar noch immer eins mit manchem Schachverrückten, die Zeiten, in denen die Großmeister mühelos das schwache Geschlecht vom Brett fegten und anschließend chauvinistisch daherredeten – „Die haben es eben nicht so mit dem Denken“ oder „Die spielen halt so ungern Schach, weil sie da vier Stunden schweigen müssen“ –, sind allerdings vorbei. Nicht mal die Vorgabe eines Bauern statt eines dreimal so starken Springers ist heutzutage drin für das starke Geschlecht. Das gilt vor allem gegen Judit Polgar.
Die Ungarin löste mit 15 Jahren nicht nur Fischer als jüngsten Großmeister aller Zeiten ab, sondern ist derzeit im argentinischen San Luis die erste Teilnehmerin eines WM-Rundenturniers bei den Männern. Als aktuelle Siebte der „Herren“-Weltrangliste qualifizierte sich Judit Polgar für den Wettbewerb. Die beste Schachspielerin aller Zeiten hat jedoch keine Chance mehr, ihren letzten großen Traum auf den 64 Feldern zu verwirklichen: Nach 10 der 14 Partien kann die 29-Jährige nicht einmal mehr rechnerisch Weltmeister werden. Mit lediglich 2,5:7,5 Punkten liegt die Budapesterin abgeschlagen auf dem achten und letzten Platz.
Nur noch theoretisch ist Wesselin Topalow vom Schach-Thron fernzuhalten. Der Bulgare remisierte nach hartem Kampf gegen einen seiner Verfolger, Alexander Morosewitsch (Russland), der zuvor drei Begegnungen hintereinander gewonnen hatte. Der ungeschlagene Topalow führt mit 8:2 Punkten weiter deutlich vor dem Russen Peter Swidler (6:4), dem Weltranglistenersten Viswanathan Anand und Morosewitsch (beide 5,5:4,5), Peter Leko (Ungarn) sowie Rustam Kasimdschanow (beide 4,5:5,5). Der Titelverteidiger aus Usbekistan hatte in der Nacht zum Montag Polgar bezwungen. Vorletzter bleibt der Engländer Michael Adams (3,5:6,5).
„Meine kleine Schwester spielt nicht so gut wie sonst“, stellt die frühere Weltmeisterin Susan Polgar fest und verweist auf deren zwischenzeitliche 14-monatige Schwangerschaftspause. Judit bleibe dennoch „die beste Spielerin aller Zeiten“. Das gilt für die 29-Jährige, obwohl sie bis auf zwei Ausnahmen seit Kindesbeinen nie bei den Frauen antrat. Judit Polgar „langweilen“ solche Duelle. Unverblümt erklärt sie: „Ich habe ein Problem mit dem Niveau“ und fordert die Aufhebung von Frauen-Wettbewerben, um eine Nivellierung zu erreichen. Die zweitbeste Spielerin, Susan Polgar, folgt bei den Männern freilich erst auf Ranglisten-Position 214. Nur knapp ein Dutzend Frauen hat bisher den Herren-Großmeister-Titel errungen.
Worauf fußt diese Diskrepanz der Geschlechter beim Denksport Schach? Zunächst einmal betreiben deutlich mehr Männer das königliche Spiel. Der Frauenanteil im Deutschen Schach-Bund liegt im internationalen Vergleich besonders niedrig mit rund sechs Prozent. Selbst Boxen hat einen mehr als dreimal so hohen Frauenanteil. Mädchen interessieren sich anfangs durchaus für Schach, gehen aber nicht so im nervenaufreibenden Tanz der 32 Figuren auf wie Jungs. Bezüglich der „Einstellung und Willenskraft“ räumt Judit Polgar Unterschiede ein: „Ich arbeite nicht Tag für Tag dafür wie manche Männer. Ich könnte problemlos 500 Spieler dieser Sorte benennen“, sagt sie.
Mancher Meisterspieler ist weltfremd und analysiert nächtelang einen neuen Läuferzug in der Sizilianischen Verteidigung oder begeistert sich für ein geniales Damenopfer. Das erregt manchen Akteur mehr als jede andere Leidenschaft. Aussagen wie „Schach ist besser“ zum Thema Sex von Fischer spiegeln solche Ansichten wider. Derlei Versunkenheit in die Materie fehlt selbst Polgar. Die lebenslustige Ungarin, die mit einem Arzt verheiratet ist, räumt ein, dass ihr Eröffnungsrepertoire für die Weltspitze zu schlecht sei. Mangelndes Tüfteln an den ersten zwanzig Zügen sieht auch der ehemalige Vizeweltmeister Nigel Short als Polgars Defizit. „Judit ist begabt, aber ihrem Spiel mangelt es an Solidität“, konstatiert der englische WM-Kommentator. Dies seien die Gründe, warum die Weltranglistensiebte dann aus schlechten Stellungen heraus das Ruder in San Luis nicht mehr herumreißen könne und Polgar erst ein Sieg gelang.
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