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„Schweigen gegen das Grölen des Mobs“

Kerzen Anfang der 1990er Jahre schien die Gesellschaft apathisch, sagt der Journalist Giovannidi Lorenzo. Er und seine Freunde brachten trotzdem Tausende zu einer Lichterkette auf die Straße

ap
Giovanni di Lorenzo

57, ist Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit. Er wurde in Stockholm geboren und lebte als Kind in Italien.

taz: Herr di Lorenzo, Sie haben im Dezember 1992 gemeinsam mit drei Freunden in München die erste Lichterkette gegen Fremdenfeindlichkeit initiiert. Aus welcher gesellschaftlichen Situation heraus haben Sie damals gehandelt?

Giovanni di Lorenzo: Ich bin ja nicht in Deutschland geboren und hatte dieses Land doch immer verteidigt, als mustergültige Demokratie, die die bösen Geister der Vergangenheit ausgetrieben hat. Und plötzlich gab es da Anfang der 90er Jahre diese Unsicherheit, ob das noch stimmt, ob das noch das Land ist, in dem ich glaubte zu leben. Es gab diese Kette von Brandanschlägen und diese uns unbegreiflich erscheinende Apathie in der Gesellschaft, vor allem in der Politik.

Welcher Impuls stand dann hinter Ihrer Aktion?

Wir wollten herausfinden, ob der grölende Mob, der Brandsätze wirft, wirklich die Avantgarde der schweigenden Mehrheit ist oder ob die schweigende Mehrheit nicht ein komplett anderes Zeichen setzen kann. Das war der Versuch, Zivilgesellschaft zu mobilisieren.

Von dem Sie selbst nicht wussten, ob er gelingt.

Natürlich. Das war ja größenwahnsinnig, dieser Slogan: „München, eine Stadt sagt Nein“. Der milde lächelnden Polizei haben wir vorher die Zahl aus unseren kühnsten Träumen genannt: 100.000. Am Abend rief uns dann die Polizei an, um zu sagen, dass sie bei 400.000 aufgehört hätten zu zählen.

Warum eine Lichterkette?

Wir haben in dieser Zeit alle Demonstrationen zu diesem Thema besucht und hatten das Gefühl, dass sich bestimmte Zeichen erschöpft hatten: der Lautsprecherwagen vorneweg, die kurdische Gruppe mit Hammer-und-Sichel-Fahne hinterher. Wir wollten etwas Neues machen, ohne Verbände, Parteien oder die Kirchen im Hintergrund. So entstand die Idee: die Kerzen gegen die Molotowcocktails, das Schweigen gegen das Grölen des Mobs.

Wie haben Sie die Leute damals mobilisiert?

Nachdem die Idee entstanden war, haben wir 100 Freunde und Bekannte in eine Münchener Diskothek eingeladen und ihnen die Idee erläutert. Dann haben wir gesagt: Wenn ihr mitmachen wollt, müsst ihr jeder bis zum Ende der Woche zehn Namen von Leuten nennen, die ihr mitbringen werdet. Und die wieder zehn Leute, nach dem Prinzip des Kettenbriefs. Das hat funktioniert. Dann haben wir die Läden abgeklappert, um Plakate aufzuhängen, und am Ende durfte ich sogar über die Lautsprecheranlage eines Kaufhauses mobilisieren.

Da haben Sie gemerkt, dass das groß werden könnte?

Vor allem haben wir gemerkt, dass das, was wir für unsere größte Schwäche gehalten hatten, zu unserer größten Stärke wurde: dass niemand von den Etablierten hinter uns stand, hat die Leute davon überzeugt, bei uns mitzumachen.

Hatten Sie seit damals noch einmal so ein Gefühl der Entfremdung gegenüber dem Land, in dem Sie leben?

Ich habe solche Momente, etwa wenn in Heidenau die Bundeskanzlerin so unfassbar beschimpft wird. Aber heute bin ich mir sicher, dass es da um eine Minderheit geht, dass die Mehrheit der Deutschen Anschläge auf Flüchtlingsheime verurteilt und Flüchtlingen helfen will. Gestritten wird sich doch eher über das Wie, das sage ich auch als Kritiker der aktuellen Flüchtlingspolitik, der sich auch von der oft nur gut gemeinten Berichterstattung zu diesem Thema entfremdet fühlt. Vor allem aber: Diese Untätigkeit der Politik, dieses völlige Ausbleiben einer Reaktion, das gibt es heute nicht mehr, weil es sich die Menschen auch nicht mehr bieten lassen würden. Das ist doch ein Fortschritt.

InterviewMalene Gürgen

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