Alltag der Jenischen: Die Unsichtbaren

Jenische? Nie gehört? Eine reisende Minderheit, über die nicht viel bekannt ist, kämpft in Baden-Württemberg um ein eigenes Kulturzentrum.

Ein Mann kniet vor einem Wandgemälde

Wandgemälde mit Jenischen im Garten von Alexander Pflügler Foto: Benno Stieber

Singen taz | Im Garten hinter seinem Haus gewährt Alexander Flügler einen Blick in seine Seele. Ein meterbreites Wandgemälde zeigt Männer mit großen Hüten, die um ein Lagerfeuer sitzen. Einer spielt Gitarre, ein anderer flicht einen Korb. Die Frauen mit Tüchern im Haar schöpfen Wasser an der Quelle und im Vordergrund sitzt ein kleiner Igel. Alexander Flügler, ein kompakter Mann von 60 Jahren mit Baseballkappe, der das Bild hat malen lassen, sagt: „Die Wagen, das Lagerfeuer, das Handwerk und der Igel als Festtagsbraten, das war unsere Kultur“.

Flügler ist ein erfolgreicher Unternehmer. In Singen am Hohentwiel, nicht weit vom Ufer des Bodensees, der Baden-Württemberg von der Schweiz und Österreich trennt, hat er es vom Fensterputzer zum Arbeitgeber für über 100 Menschen gebracht. Seine Reinigungsfirma dirigiert er von seinem Büro in seinem Haus aus, das eher einer Villa gleicht.

Eine seiner Töchter wird seine Nachfolgerin, erzählt er stolz, sie hat gerade ihren Meister gemacht. Tüchtig, in der Gegend schätzt man das. Aber wenn man Alexander Flügler fragt, wer er ist, sagt er nicht Unternehmer aus Singen, sondern „I bin a Jenischer.“ Wenn man ihn nach seinem Ziel fragt, nennt er keine Umsatzzahl, sondern das Kulturzentrum für Jenische in Singen.

Analphabet und Alkoholiker

Der Weg zum Unternehmer war für Alexander Flügler weiter als für andere. Als Kind ist er noch mit Wagen gereist. Der Vater ist Analphabet, hält sich und seinen Sohn mit Schrotthandel über Wasser. Flügler lernt erst spät lesen und schreiben, kämpft sich hoch, wird Unternehmer.

Die Verbreitung: In den deutschsprachigen Ländern, in Frankreich, den Benelux-Staaten und in Italien sind jenische Gruppen dokumentiert. Lediglich für die Schweiz und Deutschland gibt es – vage – Angaben, wie viele Menschen sich dort als Jenische definieren.

Der Rechtsstatus: Als nationale Minderheit oder als Volksgruppe sind Jenische in keinem EU-Staat anerkannt. In der Schweiz hat das Jenische als "territorial nicht gebundene Sprache" einen offiziellen Rang. Unter der Oberbezeichnung „Fahrende“ sind dort die Jenischen als nationale Minderheit anerkannt. Sie fordern die Anerkennung unter dem Namen, den sie selbst benutzen.

Solche Karrieren sind selten unter den Jenischen, das weiß Alexander Flügler: „Der Jenische“, sagt er, „ist ein Mensch, der will als Teenager nix mehr von der Schule wissen, aber das geht halt heute nicht mehr.“

Landfahrer, Sinti, Roma und auch die Jenischen, sie alle waren gemeint, wenn man „Zigeuner“ sagte. Aber eigentlich denkt bis heute jeder an Sinti oder Roma, wenn es um Fahrende, um nichtsesshafte Gruppen, geht. Jedenfalls nicht an die Bürstenbinder, Scherenschleifer und Kesselflicker deutscher Herkunft, mit deutsch klingenden Namen wie Perger oder Wittich. In der NS-Zeit wurden viele Jenische, die als „Asoziale“ gebrandmarkt wurden, verfolgt und ermordet.

Undefinierter Rechtsstatus

Doch kaum einer kennt diese Bevölkerungsgruppe, die sich nicht durch ethnische Zugehörigkeit oder durch Herkunft definiert, sondern allenfalls durch ihre gemeinsame Sprache, das Rotwelsch. Es gibt bis heute keine wissenschaftliche Arbeit, die seriös erklären kann, woher die Jenischen kommen. Vielleicht stammen sie von heimatlos gewordenen Landsknechten oder anderen verarmten Bevölkerungsgruppen des späten Mittelalters ab.

Wie viele Jenische heute genau in Deutschland leben, ist unklar. Die Bundesregierung geht von etwa 8.000 aus, die Jenischen selbst sprechen von 250.000 – doch selbst innerhalb der Gruppe ist nicht immer klar, wer dazugehört und wer nicht.

Sie sind längst nicht so gut organisiert wie die Sinti und Roma mit ihrem Zentralrat. Obwohl auch viele Opfer des Nazi-Völkermords wurden, gelten Jenische nicht als Verfolgte, was in Deutschland eine wichtige Voraussetzung ist, um als Minderheit politisch etwas zu bewegen. Sie gelten auch nicht als eigene Volksgruppe – wie etwa die Sorben oder Friesen – was der andere Weg wäre, die eigene Kultur zu schützen.

Und so sind die Jenischen eine schwer definierbare Gruppe, die zu verschwinden droht. Das Rotwelsch wird immer seltener gesprochen, die Großfamilien, in denen die Alltagskultur der Jenischen lange gepflegt wurde, lösen sich immer mehr auf. Ihre Art, zu leben, das Reisen, wird in der modernen Welt immer schwieriger.

Ihre traditionellen Berufe, etwa als Scherenschleifer, sind fast ausgestorben, der Schrotthandel ist heute so reguliert, dass er sich für ihre Kleinbetriebe kaum mehr lohnt. „Der Jenische“, sagt Alexander Flügler, „der ist ein Mensch, der sich nicht gern unterordnet.“ Wenn er könnte, sagt er, würde er selbst heute noch lieber reisen, als in seinem Haus zu leben. Aber die Zeiten hätten sich halt geändert.

Als „Asoziale“ verfolgt

„Jenische haben ein Talent, sich zu verstecken“, sagt Klaus Vater am Telefon. Vor allem die Jenischen, die in die Gesellschaft integriert sind. Klaus Vater war einmal Sprecher im Bundesgesundheitsministerium und stellvertretender Regierungssprecher von Angela Merkel. Irgendwann hat er entdeckt, dass seine Urgroßmutter eine Jenische war.

„Es gab da in der Familie Anspielungen“, sagt er. Ein paar Unterlagen aus der Nazizeit, die Herkunft aus einem Ort, in dem fast nur Jenische gelebt haben. Mehr Hinweise hatte er nicht. Aber Klaus Vater begann sich mit seiner Familiengeschichte zu beschäftigen. Jetzt, im Ruhestand arbeitet er an einem Sachbuch über die Jenischen und trägt Exponate für eine Ausstellung über ihre Kultur zusammen, die in Berlin stattfinden soll.

Einfach ist es nicht, Gegenstände zu sammeln, die von einer Kultur zeugen, die fast ausschließlich mündlich überliefert wurde. Leichter ist es, in Archiven Dokumente zu finden, die die weit zurückreichende Verfolgungsgeschichte der Jenischen belegen. Nicht erst in der Nazizeit wurden Jenische als „Gauner“ und „Asoziale“ und Kriminelle qua Geburt verfolgt.

Ein Teil deutscher Geschichte, der noch lange nicht aufgearbeitet ist. Das Interesse daran hält sich in Grenzen. Selbst einer wie Klaus Vater mit seinen Verbindungen im politischen Berlin spürt nicht gerade Rückenwind für seine Projekte.

Lebendiges Museum

Alexander Flügler steht auf einem Feld am Stadtrand von Singen. Rechts die Bahntrasse, das Tierheim in direkter Nachbarschaft. Hier würde er gern sein Zentrum für jenische Kultur errichten, auch wenn er an diesem Ort nicht gerade auf Laufpublikum hoffen kann. Im Zentrum könnten Handwerk, Musik und auch die Sprache lebendig vermittelt und bewahrt werden, glaubt Flügler.

Der Standpunkt eigne sich auch aus praktischen Gründen. Im Boden liegen schon Strom- und Abwasserleitungen, das Zentrum würde die Stadt nicht viel kosten.

Es wäre das erste Kulturzentrum dieser Art in Deutschland. Klaus Vater sagt, eine lokale Initiative wie die in Singen könnte dazu beitragen, die jenische Kultur ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Auch Anna Lipphardt, Ethnologin an der Universität Freiburg, sieht in dem Singener Kulturzentrum eine Chance und unterstützt die Initiative.

Geht es nach Flügler, soll es ein lebendiges Museum werden, ein bewohntes sogar. Denn auf dem Gelände sollen ausgewählte jenische Familien einziehen, in Häuser, die an die Wagen erinnern, in denen sie früher unterwegs waren. Das Konzept steht, die Familien sind schon ausgewählt. Ein außergewöhnliches Projekt, mit dem sich die Stadt zu den Jenischen bekennen könnte.

Oder wie es Flügler in seiner direkten Sprache formuliert: „Ein Zentrum, das zeigt, dass auch mal was für unsere Leute getan wird.“

Die „Zigeunerstadt“

Aber die Stadt und die Jenischen verbindet eine schwierige gemeinsame Geschichte. Schon vor dem Krieg galt die Industriestadt mit einer sehr heterogenen Bevölkerung im Volksmund als „Zigeunerstadt“. Lange hatten die jenischen Familien hier Lagerplätze, vielleicht schon seit dem Mittelalter, als die Burg Hohentwiel die Reisenden angezogen haben könnte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die jenischen Familien etwa wegen der Schulpflicht ihrer Kinder sesshaft werden mussten, richtete Singen für sie Barackensiedlungen ein, wie es damals viele gab im zerstörten Deutschland. Diese Siedlungen wurden in den 60er Jahren aufgelöst, und die Jenischen bekamen feste Wohnungen.

Daraus entstanden Stadtviertel, die in Singen bald verrufen waren. Doch Singen hatte die sozialen Herausforderungen, die die nun niedergelassenen Jenischen bedeuteten, früher erkannt als andere Städte. Es wurden spezielle Förderprogramme aufgelegt und Sozialarbeiter eingestellt.

Doch auch drei Generationen später ist der Anteil der Förderschüler jenischer Herkunft noch immer wesentlich höher als ihr Anteil an der Bevölkerung. Sozialarbeiter und Lehrer berichten von zerfallenden Familienstrukturen, Teenagerschwangerschaften, verbreitetem Alkoholismus.

Oberbürgermeister Bernd Häusler ist selbst in der Südstadt aufgewachsen, wo damals viele jenische Familien lebten. Er sagt, er könne gut mit den „Familienoberhäuptern“ reden, auch wenn da mal ein grobes Wort falle. Die Jenischen seien schon immer ein Faktor in der Stadt gewesen, zu dem sich Singen bekennt. Dennoch ist jenisches Leben in der Stadt heute an keiner Stelle sichtbar.

Es gibt nicht einmal ein städtisches Heimatmuseum, in dem auf jenische Kultur hingewiesen werden könnte. Offenbar hat Singen in den Jenischen immer nur ein soziales Problem gesehen. Sie kulturell anzuerkennen, fällt da schwer.

Angst vor sozialem Brennpunkt

Nach langen Gesprächen hat der Ältestenrat der Stadt Singen im vergangenen Jahr das Konzept von Alexander Flügler abgelehnt. Die Widerstände seien quer durch die Fraktionen gegangen, heißt es. Die Räte hätten sich an der Idee der Familienansiedlung gestört. Man habe Angst, dass damit vor den Toren der Stadt ein neuer sozialer Brennpunkt geschaffen würde.

Er persönlich sei ja für das Konzept, sagt der Bürgermeister, aber bitte nicht am Rande der Stadt. Doch innerorts gebe es derzeit leider kein Grundstück. „Tja, es braucht wohl ein neues Konzept“, sagt Häusler.

Schon wieder, stöhnt Alexander Flügler. Der Bürgermeister habe ihm vor der Wahl seine Unterstützung versprochen, jetzt wolle er nichts mehr davon wissen. Häußler entgegnet, er könne schließlich nichts gegen den Gemeinderat tun.

Fragt man in der Stadt herum, wer ein jenisches Kulturzentrum unterstützt, hört man nur wenige Namen. Einige davon finden sich im Gründungsprotokoll des Fördervereins für ein Jenisches Kulturzentrum das Alexander Flügler jetzt zusammen mit der Direktorin der Förderschule gegründet hat. Ursula Garz hat sich schon viele Gedanken darüber gemacht hat, wie jenische Kinder trotz des Zerfalls der Familienstrukturen mehr Lernerfolge erzielen könnten.

Das Kulturzentrum, hofft sie, könnte zu einer sozialen Anlaufstelle etwa für jenische Mütter werden, die sonst mit ihren Kindern und dem Fernseher allein zu Hause bleiben. Der Förderverein müsse jetzt mit Veranstaltungen für den Plan werben, findet sie. Vielleicht ließe sich damit auch der Stadtrat umstimmen. Schulleiterin Garz sagt, man brauche natürlich viel Geduld.

Aber Alexander Flügler will nicht länger warten. Er hat geworben gestritten, das Konzept verändert und versucht, Politiker zu begeistern. Er fühlt sich hingehalten vom Stadtrat, in dem offenbar viele hoffen, dass sich das Thema von selbst erledigt. Flügler weiß nicht, wie lange er noch weiter kämpft. „Der Jenische“, sagt er, „ist ein Mensch, der irgendwann auch mal die Geduld verliert.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.