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Ein paar mehr dürfen es wieder sein

Taz-Serie 1 Jahr nach Budapest Als Bundeskanzlerin Angela Merkel Flüchtlinge nach Deutschland holte, kamen 3.500 ins kleine Örtchen Meßstetten südlich von Stuttgart. Das Aufnahmelager wollen die Bewohner behalten – nicht nur wegen der Zuschüsse

Zuflucht in der ehemaligen Kaserne. Im Herbst 2015 wohnen 3.500 Flüchtlinge in Meßstetten Foto: Felix Kästle/dpa/picture alliance

AUS MEßSTETTEN Benno Stieber

Das Kasernengelände wirkt ausgestorben. Die Straßen zwischen den alten Bäumen sind nahezu menschenleer, auf dem Rasen blühen Blumen. Hier und da Männer und Frauen in Security-Jacken, die unentschlossen herumstehen. Bewohner des Flüchtlingsheims sieht man kaum. Kein Lachen und Schreien im gut ausgestatteten Kindergarten. Hier gibt es zurzeit nur eine Gruppe, betreut von mehreren Erziehern. Nur das Spielzeug und die vielen bunten Kinderbilder an der Wand erzählen aus der Zeit, als es hier hoch herging.

Meßstetten, ein schwäbisches 5.000-Menschen Städtchen, 907 Meter hoch auf der Zollernalb. Hier liegt Deutschlands wahrscheinlich höchstgelegene Landeserstaufnahmestelle (LEA). 3.500 Flüchtlinge lebten zu Hochzeiten auf dem Kasernengelände, auf dem vorher nie mehr als 1.500 Soldaten stationiert waren. Das war im Herbst letzten Jahres, als Deutschland die Grenzen für die Flüchtlinge geöffnet hatte.

Erst 3.500 – heute 280

„Damals ging es nur noch darum, für jedem ein Dach über dem Kopf zu organisieren“, erinnert sich Frank Meier, der Leiter der LEA. Die Menschen schliefen auch in den Sporthallen, auf und unter Tischen, selbst in den eigens eingerichteten Gebetsräumen. Essen wurde in zwei Schichten ausgegeben. Heute leben noch gerade mal 280 Flüchtlinge auf dem Gelände. Es gebe rechnerisch quasi eine zwei zu eins Betreuung, sagt Meier. Das Lager gleicht von seiner Atmosphäre einem Feriendorf in der Nebensaison. Das war nicht immer so.

Die vergangenen zwei Jahre waren für Meßstetten eine Achterbahnfahrt. Oder wenn man Wolfgang Schäubles Zitat abwandelt, das Rendezvous eines schwäbischen Örtchens mit der Globalisierung. Im Sommer 2014 schließt die Bundeswehr die Fliegerkaserne am Ort. Die Soldaten hatten seit Jahrzehnten einen wesentlichen Teil zum Wohlstand und Selbstverständnis von Meßstetten beigetragen. Kaum ist die Kaserne leer, möchte das Land aus ihr eine Flüchtlingsunterkunft machen.

Auf der Bürgerversammlung bleiben die ängstlichen und fremdenfeindlichen Stimmen in der Minderheit, der Gemeinderat entscheidet am Ende einstimmig für die Flüchtlinge: 1.500 dürfen kommen. Und es ist hier wie an vielen Orten in Deutschland. Die Hilfe der Bevölkerung ist riesig. Viele spenden Kleidung und Spielzeug, über 150 Bürger melden sich als ehrenamtliche Helfer für Freizeitgruppen und Sprachkurse.

Im Sommer 2015 steigt dann die Zahl der Flüchtlinge erstmals über die vereinbarte Flüchtlingszahl von 1.500. Die kritischen Stimme im Ort werden lauter. Der örtliche Lidl-Markt wird für die Flüchtlinge zum Treff- und für manche Meß­stetter zum Brennpunkt. Die Bewohner der LEA kaufen dort ein und setzten sich bei schönem Wetter ins Gras. Es wird gegessen und getrunken.

Serie 1 Jahr nach Budapest

Am 1. September 2015 rufen Syrer und andere Flüchtlinge auf einem Budapester Bahnhof „Merkel, Merkel“. Am 5. September entschließt sich die Kanzlerin, die Flüchtlinge nach Deutschland zu lassen. Kurz darauf kommen jeden Tag Tausende in München an. Die Bewohner empfangen sie euphorisch. Ein Jahr später schaut die taz auf Orte, die die Flüchtlingsdebatte seither geprägt haben: von Meßstetten bis Clausnitz.

„Für den Schwaben ist das unvorstellbar, dass hier jemand einfach sitzen kann“, sagt ein ehrenamtlicher Helfer grinsend. „So was gab es hier bisher nicht“. Andere Bürgerbeschwerden sind verständlicher: Es geht um Müll, Brandgefahr durch wilde Grillstellen im Wald und um Lärmbelästigung. Ein großer Streitpunkt: Vor allem beim Lidl verrichtet mancher seine Notdurft im Nachbargarten. Es dauert Monate, bis Supermarkt und Gemeinde eine öffentliche Toilette aufstellen.

Exoffizier koordiniert ­ehrenamtliche Helfer

Doch die Politik macht vor Ort auch vieles richtig. Es werden mehrere Sozialarbeiterstellen geschaffen. Alle zwei Wochen öffnet das Kasernengelände seine Türen. Die Bürger sollen sich selbst einen Eindruck von der Einrichtung machen. Der Polizeiposten wurde auf das Flüchtlingsgelände verlegt. Ein ehemaliger Offizier, der sich gut auf dem Gelände auskennt, koordiniert die ehrenamtlichen Helfer. Und als Ort der Begegnung findet sich ein altes Gasthaus.

Doch während der Überbelegung im Herbst 2015 nehmen auch innerhalb der LEA die Spannungen unter den Flüchtlingen zu. Im November 2015 kommt es zu einer Massenschlägerei. Der Auslöser war wohl ein Brötchen und ein Sicherheitsmann, der möglicherweise zu schroff durchgegriffen hat. Es kommt zum ersten Polizeigroßeinsatz. „Die Blaulichtparty“, wie sie hier ein bisschen zynisch sagen, bleibt der einzige massive Zwischenfall. Dazu kommen zwar eine Reihe kleinerer Ladendiebstähle. Doch insgesamt profitieren die Geschäfte von den Flüchtlingen. Sie setzen deutlich mehr um. Das Vorurteil der Kritiker bestätigt sich hingegen nicht: Die Staatsanwaltschaft meldet, die Zahl der Straftaten sei niedriger als befürchtet.

Doch Gerüchte kommen ohne Fakten aus. Sie werden in Meß­stetten wie anderswo inzwischen seltener auf dem Marktplatz verbreitet, dafür umso eifriger im Internet. „Je weiter die Leute von der LEA entfernt sind, desto größer werden die Vorurteile“, sagt Michael Würz. Er sitzt fast Tag und Nacht an der Quelle. Würz ist Social-Media-Chef beim Zollern-Alb-Kurier und beobachtet, wie vor allem Facebook zur Gerüchteschleuder in Sachen Meßstetten wurde. Monatelang hat er jede Geschichte nachrecherchiert, ob es die Räuberpistole vom geklauten Schaaf war oder das Schauermärchen von dem angeblich von anderen Flüchtlingen geköpften LEA-Bewohner. Nicht einen Funken Wahrheit fand er, und das hat er auch zurück ins Netz gefunkt. Mit Erfolg, findet Würz. Der letzte Eintrag der Facebook-Gruppe „Meßstetten gegen die LEA“ stammt vom Mai dieses Jahres.

Man kann sagen, die Meß­stetter haben die Nerven behalten. Selbst dann, als irgendwann jeder Zweite im Ort ein Geflüchteter war. Keine einzige Demonstrationen oder Attacke von rechts hat es gegeben. Die Szene, die es auf der Alb durchaus gibt, hat sich nicht mal bei den Bürgerversammlungen sehen lassen. Selbst der Kandidat der AfD fuhr bei der Bürgermeisterwahl im Frühjahr mit 4,9 Prozent ein für die Partei verheerendes Ergebnis ein.

Dass ihn der Ministerpräsident persönlich kennt, findet Exbürgermeister Lothar Menning auch nicht schlecht

Lothar Mennig von der Freien-Wähler-Vereinigung war damals nicht mehr angetreten. Die Einrichtung der LEA war seine letzte politische Großbaustelle nach 24 Jahren als Bürgermeister. Er sitzt auf der Terrasse seines Hauses und ist sichtlich Stolz darauf. Die Stadt habe von den neuen Arbeitsplätzen in der Einrichtung und von den Landeszuschüssen klar profitiert, sagt er. Mennig wusste, sagt er, dass die Flüchtlingsaufnahme in Meß­stetten für die grün-rote Landesregierung zum Erfolg werden musste. Sonst hätte das gesamte Flüchtlingsmanagement im Land gewackelt. Deshalb hat Winfried Kretschmann Meß­stet­ten dankbar in seiner Weihnachtsansprache erwähnt. Deshalb hat das Integrationsministerium von Bilkay Öney auch in den schwierigsten Phasen stets schnell zurückgerufen. „Politik ist immer ein Geben und Nehmen“, sagt Mennig. Und dass ihn der Ministerpräsident nun persönlich kennt, findet er auch nicht schlecht.

„Was hätten wir auch sonst mit dem Kasernengelände machen sollen?“, fragt Mennig seine Kritiker im Ort. Meßstetten hat keinen Bahnhof und die nächste Autobahnausfahrt ist fern. Das schreit nicht gerade nach Unternehmensansiedlungen. „Hierher kann man nur jemanden hinbefehlen, hinverlegen oder einsperren“, formuliert es ein Stadtrat wenig charmant. Deshalb hatte sich Meßstetten auch für ein neues Landesgefängnis beworben. Aber auch da gab es in der Bevölkerung erhebliche Widerstände. Lieber Flüchtlinge als Häftlinge, hieß es.

„Nein“, sagt Exbürgermeister Mennig entschieden: „Wir haben das Beste draus gemacht.“ Das ist wohl derzeit die herrschende Meinung in Meßstetten. Der Stadtrat hat noch vor der Sommerpause beschlossen, die LEA um ein weiteres Jahr zu verlängern. Doch hat die Ratsmehrheit die Belegungszahl auf maximal 500 begrenzt. Dabei könnten auf dem Kasernengelände locker doppelt so viele untergebracht werden. Bleibt es bei der Zahl, gehen viele der neuen Arbeitsplätze wieder verloren. Frank Meier sagt, er müsse jetzt nun mit einigen seiner 400 Angestellten der LEA Kündigungsgespräche führen. Auch die engagierten Meßstetter werden nicht mehr alle gebraucht.

Es sagt hier kaum einer laut, aber eigentlich könnte Meßstetten mehr Flüchtlinge vertragen. Nicht mehr die 3.500 vom letzten Herbst, aber ein paar mehr als jetzt könnten es schon sein. Nach alldem hat man sich an sie gewöhnt.

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