Alles, nur nicht Preußen

NORDLAND I Das Land Niedersachsen hätte durchaus kleiner ausfallen können. Die Niederlande erwogen, einen Teil zu annektieren, und noch 1975 votierten die OldenburgerInnen für eine Wiedererrichtung ihres Freistaates

Ohne Arisierungsgewinner Kopf lässt sich die Schaffung des Landes nicht beschreiben

VON ANDREAS WYPUTTA

Den Anfang machten die Briten: Am 23. August 1946 verkündete deren Militärregierung ihre Verordnung Nr. 46 „Betreffend die Auflösung der Provinzen des ehemaligen Landes Preußen in der Britischen Zone und ihre Neubildung als selbständige Länder“. Den Briten unterstand ganz Nordwestdeutschland mit Ausnahme der US-amerikanischen Enklaven Bremen und Bremerhaven.

Formell begründet wurde diese Zerschlagung im Februar 1947 noch einmal durch Beschluss des Alliierten Kontrollrats. Preußen sei „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen“, heißt es darin – die dort gepflegte Obrigkeitshörigkeit, Untertanenmentalität und der Kadavergehorsam seien Grund für zwei von Deutschland begonnene Weltkriege gewesen, so das Argument der Siegermächte.

Landesgeburtstag feiern kann heute deshalb nicht nur die ehemals preußische Provinz Schleswig-Holstein (siehe Text rechts): Aus Westfalen und dem Nordteil der preußischen Rheinprovinz formten die Briten mit ihrer „Operation Marriage“ Nordrhein-Westfalen – an ihrer Zwangsvereinigung leiden manche der unaufgeregt-bodenständigen Westfalen und der redselig-jovialen Rheinländer noch heute.

Ein Kunstgebilde ist auch Niedersachsen. Noch immer fragen Braunschweiger nach Hannover Zugezogene, wie man es in der Landeshauptstadt bloß aushalte. Dort wiederum gilt die zweitgrößte Stadt Niedersachsens als hässlich – rund 90 Prozent der mittelalterlich erhaltenen Innenstadt verschwanden im Feuersturm des Bombenangriffs vom 15. Oktober 1944.

Auch wer sich wundert, warum am Oldenburger Hauptbahnhof verkündet wird, dass die Stadt in Oldenburg liegt und Denkmäler im nur 80 Kilometer südlich von Hamburg liegenden Bad Bevensen Hannovers Könige feiern, findet die Antwort in Niedersachsens Geschichte.

Große Teile des Bundeslands gehörten zum 1866 von Preußen annektierten Königreich Hannover. Auf heute niedersächsischen Gebiet lagen aber auch die Herzogtümer Braunschweig und Oldenburg, die nach dem Ersten Weltkrieg in Freistaaten umgewandelt worden waren, dazu Kleinstaaten wie Schaumburg-Lippe.

Ihrer Idee von der Zerschlagung Preußens folgend schuf die britische Militärregierung vor 70 Jahren deshalb zunächst das Land Hannover – doch dessen erster Ministerpräsident, der heute als Arisierungsgewinnler verrufene Hinrich Wilhelm Kopf, wollte mehr: Der Sozialdemokrat setzte im November 1946 nicht nur die Vereinigung mit Braunschweig und Oldenburg durch, sondern träumte zudem von einem Bundesland, das auch die ostwestfälischen Kreise Bielefeld, Herford, Minden und das heute ebenfalls zu NRW gehörende Land Lippe umfassen sollte.

Zwar gilt Kopf heute als jeder öffentlichen Ehrung unwürdig – als „Treuhänder konfiszierter polnischer und jüdischer Güter“ muss er im nationalsozialistisch besetzten Polen an der Entrechtung und Verfolgung der dort lebenden Menschen maßgeblich beteiligt gewesen sein. Mag auch der Platz vor dem Landtag in Hannover seit 2015 nicht mehr seinen, sondern den Namen der politischen Theoretikerin Hannah Arendt tragen: Ohne Kopf beschreiben lässt sich die Schaffung des heutigen Niedersachsens jedoch kaum.

Denn 1946 plädierten Politiker aus Braunschweig für die Erhaltung ihres Landes, während in Oldenburg die Schaffung eines Landes Weser-Ems gefordert wurde, das auch Bremen und die damaligen Regierungsbezirke Osnabrück und Aurich umfassen sollte. Wären diese Pläne umgesetzt worden, bestünde Niedersachsen heute aus drei etwa gleich großen Ländern.

In den Niederlanden kursierten Pläne, das eigene Staatsgebiet bis zur Weser auszudehnen („Nederlands grens kome aan de Wezer“). Und in Oldenburg votierten die BürgerInnen 1956 und auch noch 1975 in Volksabstimmungen für die Unabhängigkeit von Niedersachsen – allerdings lehnte der Bundestag die Wiedererrichtung ihres Freistaates ab.

Entsprechend zurückhaltend laufen die Vorbereitungen zur Feier des 70. Landesgeburtstages in Niedersachsens Landeshauptstadt. Während zum nordrhein-westfälischen Festakt in der Düsseldorfer Tonhalle heute Abend nicht nur Bundeskanzlerin Angela Merkel, sondern auch der mutmaßliche nächste König von Großbritannien, Prinz William, erwartet wird, soll in Hannover erst am 1. November mit einem Symposium in der Oper an die Landesgründung erinnert werden. „Wir haben uns entschieden“, sagt Niedersachsens amtierender SPD-Ministerpräsident Stephan Weil, „erst den 75. Geburtstag größer zu feiern.“