GUTACHTEREI Im „Harms am Wall“-Prozess haben eine Lippenleserin und eine Bewegungswissenschaftlerin ausgesagt. Bewiesen ist damit nichts: Kennen Sie dieses Schlurfen?
von Gareth Joswig
Indizienprozesse sind schwierig. Wenn Angeklagte auf „unschuldig“ plädieren, entscheiden Details über Strafe oder Freispruch – etwa kurze Videosequenzen. Doch wer ist in der Lage, objektiv über kleine Details urteilen zu können?
Dafür gibt es Sachverständige. Davon waren am Freitag beim Strafverfahren vor dem Bremer Landgericht gleich mehrere geladen. Angeklagt sind Hans E., Ex-Besitzer des Modegeschäfts „Harms am Wall“, und ein Mitangeklagter M. Der Tatvorwurf gegenüber E.: schwere Brandstiftung, Vortäuschung einer Straftat und Versicherungsbetrug. Zusammen sollen sie nach Ladenschluss einen Raubüberfall fingiert haben, im Rahmen dessen die Brandstiftung stattgefunden hätte. M. ist als Mittäter angeklagt. Strafrahmen für schwere Brandstiftung sind fünf bis fünfzehn Jahre Haft.
Im vergangenen Dezember nahm die Polizei E. und M. in Untersuchungshaft. Die Grundlage dafür lieferten auch Aufnahmen einer Überwachungskamera im niedergebrannten Kaufhaus. Ein Video stammt vom 17. April 2015 und eine Filmsequenz vom Tattag, dem 6. Mai 2015. Auf dem ersten Video sind die Angeklagten zu sehen, wie sie einen Gang abschreiten und miteinander sprechen – laut Staatsanwaltschaft Maßnahmen zur Tatvorbereitung. Im zweiten Film geht ein maskierter Mann mit blauer Jacke am Tatabend durch denselben Raum.
Laut Ermittlungsakte hat eine Lippenleserin bei der Polizei ausgesagt, dass der Mitangeklagte auf dem ersten Video sagt: „Ich glaube, dass wird nicht einfach. Wegen der Kamera.“ Eine Bewegungswissenschaftlerin hat laut Gutachten zudem Ähnlichkeiten im Gang des Mitangeklagten auf dem ersten Video und des Maskierten in der zweiten Sequenz erkannt.
Vor Gericht ist es nicht so eindeutig: Die Lippenleserin, eine Frau von 76 Jahren, hat ihr Gehör im Alter von zwei Jahren verloren und ist auf einem Auge blind. „Lippensehen“, wie sie es nennt, sei sehr schwer. Um die Mundbewegungen des Angeklagten genau zu erkennen, geht sie nah an einen Laptopbildschirm, weil die Leinwand im Gerichtssaal nicht ausreicht.
Ihre Angaben gegenüber der Polizei kann sie vor Gericht nicht bestätigen. Die Lippenleserin sieht den Mitangeklagten zwar sagen „Ich glaube, das wird nicht einfach“, die Lippenbewegungen danach kann sie jedoch nicht übersetzen. Für die Verteidigung um die Rechtsanwälte Erich Joester und Wilfriedt Behrendt fehlen Hinweise auf Brandstiftung.
Die Lippenleserin
Hinweise darauf, dass es bei den Videos um dieselbe Person handelt, liefert jedoch eine Bewegungswissenschaftlerin der Uni Bremen. Bild für Bild vergleicht sie die beiden Videos und stellt bei beiden Personen ein asymmetrisches Gangbild fest. Das klingt dann so: „Außenrotation der Füße, kein starkes Anheben des Oberschenkels, kein Abrollen, sondern flächiges Aufsetzen des Fußes und eine leichte Beugung des Sprunggelenks“ sei bei beiden Personen feststellbar. Laien würden sagen: Schluffi-Gang. „Ziemlich markant“ sei die Ähnlichkeit, eine genaue Prozentzahl will die Gutachterin nicht nennen.
Die Verteidigung stellte bereits zu Beginn der Aussage der Bewegungswissenschaftlerin einen Befangenheitsantrag – die Objektivität der Gutachterin sei zweifelhaft.
Ein dritter Sachverständiger, studierter Elektrotechniker, wertete für die Polizei das Telefon des Hauptangeklagten aus. Er stellte fest, dass jemand die Daten von 93 Telefonaten aus der Anrufliste löschte. Es fehlen die Rufeinträge im Zeitraum vom Dezember 2014 bis zum Juni 2015, einen Monat nach dem Tatzeitpunkt. Auch mehrere SMS an den Mitangeklagten wurden manuell gelöscht. Der Angeklagte E. sagte: „Ein generelles Problem des I-Phone, darüber berichteten unzählige Internet-Foren.“ Wie objektiv die wiederum sind, muss das Gericht beurteilen.
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