Stadtgespräch
: Der Krieg, den keiner will

Ist die neue KrimKrise ein im Suff entstandenes Versehen? Gespräche in einem ukrainischen Fitnessstudio

Bernhard Clasen aus Kiew

Heute Abend fahre ich mit dem Bus nach Sewastopol,“ berichtet Igor Panjuta. Panjuta stammt aus Sewastopol, der Hafenstadt auf der Krim, seine Mutter lebt weiterhin dort. Seit acht Jahren ist der Lkw-Fahrer in Kiew zu Hause. Etwa zehnmal im Jahr besucht er die alte Heimat. Diesmal, das weiß er schon, wird es schwierig. „Mein Reiseunternehmen hat mich schon informiert, dass der Übergang Kalantschak wegen der aktuellen Krise gesperrt ist und wir uns deswegen auf einen Umweg von 100 Kilometern über Tschongar und zusätzlich längere Wartezeiten einstellen müssen. Meine Mutter wird mich dieses Mal wohl einige Stunden später als zunächst angekündigt sehen.“

In der ukrainischen Hauptstadt sind sich die Leute ziemlich einig, was die jüngsten Spannungen rund um die Krim angeht. Er kenne sich ja mit russischen Provokationen aus, meint Igor Panjuta. Das Drehbuch sei immer gleich. Nur wenige Stunden nach einem Anschlag trete man bereits mit einer plausiblen Erklärung und einem überführten Täter an die Öffentlichkeit. Doch die jüngsten Ereignisse auf der Krim hätten sich nicht nach diesem Drehbuch abgespielt. „Am 7. August gibt es eine Schießerei, und erst vier Tage später geht der Inlandsgeheimdienst damit an die Öffentlichkeit?“, wundert er sich. „Auch das panische Verhalten der russischen Sicherheitskräfte während dieser vier Tage lässt darauf schließen, dass Russland nicht Herr der Situation war, sondern auf etwas Unerwartetes reagiert hat.“

Dies spreche dagegen, dass Russland nun diesen Vorfall als Kriegsgrund nutzen werde, findet Panjuta. Er ist mit dieser Einschätzung nicht allein. „Ich denke, diese Ereignisse sind von den Russen inszeniert“, meint Wolodymir, der wie jeden Morgen eine halbe Stunde im Fitnessstudio Myfit in der Kiewer Uschinskaja-Straße trainiert. „Trotzdem denke ich nicht, dass die Russen nun einen Krieg anfangen wollen. Die Russen wollen nur ein bisschen die Ukraine destabilisieren und unsere Regierung provozieren, damit die etwas tut, was Russland als Opfer dastehen lässt.“

„Ich glaube auch, dass hier von russischer Seite ein Terroranschlag inszeniert werden sollte“, meint Wolodymirs Freundin, die sich als Zirkusartistin vorstellt. „Russland braucht einen äußeren und einen inneren Feind, das stärkt die Position der Machteliten für die Wahlen im Herbst.“ Gleichzeitig setze Russland wohl zu einem entscheidenden Schlag gegen einen wichtigen Feind an: die Krimtataren. Denn die hätten nach Erdoğans Besuch in Moskau ihren wichtigsten Bündnispartner, die Türkei, verloren.

„Nein“, mischt sich ein weiterer Frühsportler in das Gespräch ein. Er ist sich sicher, dass es den angebliche ukrainischen Angriff auf der Krim in Wirklichkeit nie gegeben hat – und ebenso wie Igor Panjuta meint er, es sei etwas geschehen, was niemand geplant hat. „Der 7. August, an dem Soldaten auf der Krim geschossen haben sollen, war ein Sonntag. Ich war selbst in der Armee, und ich weiß, dass gerade an den Sonntagen besonders viel Alkohol getrunken wird. Die haben sicherlich getrunken, dann wegen einer Kleinigkeit einen Streit angezettelt und sofort zu den Waffen gegriffen. Das alles zeigt vielmehr, dass der Putin seinen Laden überhaupt nicht im Griff hat. Und genau deswegen wird er auch keinen Krieg befehlen.“

„Mein Vater ist Architekt,“ meint die Freundin des ersten Sportlers. „Und er hat mir gesagt, dass die riesige Brücke, die die Russen vom russischen Festland auf die Krim bauen wollen, nie richtig funktionieren kann. Und genau deswegen müssen die Russen, wenn sie einen Landweg zur Krim wollen, noch andere Gebiete in der Ukraine erobern, um so die Krim mit dem Donbass zu verbinden.“

„Ich glaube“, fügt ihr Freund hinzu, „Russland braucht einen Vorwand, um aus den Minsk-Verhandlungen aussteigen zu können. Derzeit kann Russland in diesen Verhandlungen nichts mehr erreichen, was es nicht schon hat. Und wenn es aus dem Minsk-Prozess ausgestiegen ist, kann es im Donbass und auf der Krim machen, was es will.“