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Barock Der schönste Moment der Johannespassion, meint Jordi Savall, sei, wo gesungen wird: Es ist vollbracht. Es sei, „als sterbe man selbst“, meint er, der Meister alter Musik. Ein Gespräch über Saiten, Kriege und Liebe„Mit Musik kann man nicht lügen“

„Neben Musik mit einem starkem Dumdumdum brauchen wir auch Musik, die an Zärtlichkeit appelliert. Ich habe immer gedacht: Die schönsten Sachen, die ein Mensch zu einem anderen Menschen sagt, sagt er leise“: Jordi Savall

Gespräch Waltraud SchwabFoto Piero Chiussi

taz.am wochenende: Herr Savall, Sie sind der Musiker, also wirklich der Meister, der die alte Musik – lange zusammen mit der Sopranistin Montserrat Figueras, Ihrer verstorbenenen Ehefrau – wieder einem großen Publikum zugänglich gemacht hat. Mit Millionen verkauften Tonträgern, mit Filmen und Auszeichnungen. Ist es Passion oder Mission?

Jordi Savall: Am Anfang ist es immer eine Passion, eine Art des Zuhauseseins. Ich erinnere mich an ein Zitat von Mark Twain, der sagte, dass es zwei wichtige Momente im Leben eines Menschen gibt: den Tag der Geburt, und den Tag, an dem er verstand, warum er geboren wurde.

Ein schöner Satz.

Ich glaube, jeder Mensch will in seinem Leben herausfinden, wozu er wirklich fähig ist. Wenn man das findet, dann ist man zu Hause.

Wann haben Sie verstanden, dass alte Musik Ihr Ding ist?

Alte Musik nicht. Ich habe verstanden, dass Musik meine Welt ist, als ich sechs Jahre alt war und im Knabenchor der Schule sang. Aber als ich 14 war, ein Cello in meinen Händen hatte und anfing zu spielen, da habe ich mich zu Hause gefühlt.

Wie war das?

Wenn Sie an etwas arbeiten und Sie bekommen ein hundertprozentiges Ergebnis, dann sind Sie zu Hause. Wenn Sie hundert Prozent arbeiten und nur zehn Prozent bekommen, dann sind Sie nicht zu Hause.

Mussten Sie viel arbeiten?

Wenn man Freude an etwas hat, dann ist es keine Arbeit.

Sondern?

Etwas, das Sinnlichkeit in mein Leben bringt, mich lebendig macht, mir maximale Resonanz im Denken, im Fühlen gibt.

Wie nehmen Sie Musik wahr?

Musik ist die erste Sprache des Menschen und die einzige Sprache, mit der wir uns direkt in Verbindung setzen können mit anderen Menschen und Kulturen. Musik führt nie zu Missverständnissen.

Wirklich nicht?

Mit Musik kann man nicht lügen. Man muss nicht studiert haben, um es zu spüren, wenn ein Sänger oder Musiker emotionslos spielt oder singt. Das ist die erste und tiefste Qualität von Musik. Sie geht von Herz zu Herz.

Und das geht alles übers Hören? Oder kann man Musik auch sehen oder schmecken?

Erst geht es übers Ohr, aber wenn ein Musiker schön spielt, und sein Ausdruck, seine Haltung ist nicht gut, dann wird der Funke zwischen ihm und dem Publikum nicht überspringen. Wir nehmen die Musik mit allen Sinnen auf.

Mal konkret gefragt: Haben Frauenstimmen einen süßen Geschmack?

Das kommt auf die Tonlage an: Tiefe Frauenstimmen können süß sein, hohe können wie ein Messer schneiden.

Ich werde immer aufgeregt, wenn ich hohe Frauenstimmen höre.

Aufgeregt ist das Stichwort. In der Barockzeit beschrieb man den Unterschied zwischen einer Viola da Gamba und einer Geige so: Wenn Sie in einem kleinen Zimmer einer Geige zuhören, werden Sie nach einer Weile ganz aufgeregt sein, weil diese hohen Töne mit ihrer starken Intensität Sie anspannen. Bei einer Viola da Gamba, wo die Saiten lockerer gespannt sind, die Töne leiser sind, fast wie geflüsterte Sprache, da werden Sie sich entspannen.

Sie haben die Viola da Gamba wieder aus der Vergessenheit geholt. Warum war das Instrument vergessen?

Etwa ab Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Geige populär. Denn die Säle bei den Konzerten wurden größer und die Viola da Gamba war zu leise. Ihre Intimität, die ja ihre Stärke ist, geht in großen Konzertsälen verloren. Die Geige hat in einem großen Saal einen stärkeren Effekt.

"Wenn ein Sänger aufhört zu singen, wo ist dann die Musik? Im Gedächtnis. Weil wir uns nur an Sachen erinnern, die unsere Gefühle getroffen haben"

Es müssen auch mehr Menschen angesprochen werden.

Aber sie müssen nicht angeschrien werden. Wenn Sie drei Stunden einer Geige, auch in einem großen Saal, zuhören, das kann Sie wütend machen.

Sie spielen die Viola da Gamba und spielen alte Musik.

Ich sehe das anders: Ich habe nie alte Musik gespielt. Ich studiere alte Partituren. Die Musik existiert nur in dem Moment, in dem sie gespielt oder gesungen wird. Das heißt, Musik ist niemals alt, Musik ist immer Gegenwart. Wenn ein Sänger aufhört zu singen, wo ist dann die Musik? Sie ist in unserem Gedächtnis, in unserer Erinnerung. Das ist die große Kraft der Musik. Deshalb sind Schönheit und Emotion so wichtig. Weil wir uns nur an Sachen erinnern, die unsere Gefühle getroffen haben.

Ist das so?

Ja. Voltaire sagte: Sans les sens il n’y a point de mémoire, et que sans la mémoire il n’y a point d’esprit – ohne Sinne kein Gedächtnis, ohne Gedächtnis kein Verstand. Deshalb ist es so wichtig, dass ein Sänger oder Musiker die Musik wirklich zum Leben erweckt, wenn er ein Stück interpretiert. Stellen Sie sich einen fantastischen Computer vor, der ganz genau die menschliche Stimme oder den Klang einer Geige reproduzieren kann, und hören Sie dann die Interpretation einer H-Moll-Messe von Bach mit dieser fantastischen Maschine; alles ist perfekt, aber das wird nix. Für uns wird es null sein. Denn es fehlt das essenzielle Element.

Und was ist das?

Das Geistige, das in der Musik durch die menschliche Emotion, die menschliche spirituelle Dimension entsteht.

Und Sie meinen, die Maschine kann das nicht?

Nein, die Maschine kann nur analysieren, aber sie kann nicht die Schönheit der Emotion übermitteln. Eine Partitur ist ein unfertiges Projekt, in dem Sinne, dass sie zwar alles bestimmt, aber einen Menschen braucht, der das versteht und zum Leben erweckt. Er muss die Musik zu seiner Musik machen. Es ist ähnlich wie in der Kunst.

Wie meinen Sie das?

Was ist der Unterschied zwischen Kunst und Kunsthandwerk? Kunsthandwerk nutzen wir, besitzen wir. Es ist schön. Aber Kunst bringt uns innerlich zum Schwingen. Bei Musik, die uns berührt, gibt es diese Differenzierung auch. Es gibt sehr gute Musiker, die Handwerker sind, und wir brauchen das. Wir brauchen Musik für das Tägliche, Musik zum Nebenbeihören, zum Tanzen. Aber es gibt auch Musiker, die wie in eine Symbiose mit dem Komponisten geraten und die Partitur lebendig machen in ihrer Sublimität, ihrer Erhabenheit, Großartigkeit.

Unterschiedliche Leute reagieren unterschiedlich auf Musik. Dann kann ein Stück doch für den einen Kunst sein und für den anderen nicht.

Musik ist immer eine persönliche Sache. In einem Saal, in dem zweitausend Leute sitzen, hat jeder Zuhörer das Gefühl, die Musik ist für ihn allein gespielt. Wir nehmen die Musik als etwas Privates wahr, selbst wenn noch 1.999 Leute daneben sitzen. Das ist das Besondere der Musik.

Wie sind Sie zur alten Musik – ich nenne sie jetzt mal weiter alte Musik – gekommen?

Ich war Autodidakt und habe mir irgendwelche Partituren für Cello gekauft. Zufällig waren das Transkriptionen von Viola-da-Gamba-Musik. Das war mein erster Kontakt mit alter Musik, mit Marais, mit Bach, mit Gambamusik für das Cello. Ich habe das gar nicht kapiert, ich wusste ja nicht, was eine Viola da Gamba ist.

Wann haben Sie es kapiert?

Am Ende meines Studiums wurde ich gefragt, warum ich Gambamusik mit dem Cello spiele? Dann habe ich zufällig in Barcelona eine Viola da Gamba bekommen und da ist meine Liebe zu diesem Instrument entbrannt. Dieses Instrument und die Musik dazu wieder lebendig zu machen, wurde für mich zu einem Auftrag, zu einer fast utopischen Idee. Ich erinnere mich genau, ich saß in der Bibliothek in Paris oder im Britischen Museum in London und ich entdeckte Hunderte Werke von Couperin, von Marais, von Forqueray, von Saint-Colombe, und in England von Jenkins, Purcell, Lawes, die nie gespielt waren. Das waren fantastische Entdeckungen. Viele Leute sagten, du bist verrückt, das wiederbeleben zu wollen. Aber das habe ich auch gehört, als ich gesagt habe, ich will das Cello spielen.

Warum?

Als Cellospieler kannst du arm werden. In den fünfziger Jahren sind ja sehr viele Musiker arbeitslos geworden, weil die Schallplatten populär wurden. Trotzdem habe ich Cello studiert. Neun Jahre lang.

„Wenn Sie eine geliebte Person verlieren, ist es, als bluteten Sie aus, Ihre ganze Energie ist weg“

Sie sind Generation Beatles.

Generation Elvis Presley. Mein Idol.

Und trotzdem machen Sie alte Musik.

Weil man bei alter Musik kreativ sein kann. Die Höhe der Töne ist notiert, aber den Rhythmus weiß man nicht. Man hat als Anhaltspunkt nur den Rhythmus der Sprache, aber die Melodie muss man konstruieren mit Begleitung und Ornamentation und Improvisation. Das ist ein sehr kreativer Prozess. Von meinen orientalischen Freunden habe ich da viel gelernt. In der orientalischen Musik gibt es ja viele ornamentierte Wiederholungen. Ich habe sofort gemerkt, als wir mit alter Musik anfingen, dass wir das, was wir über Kontrapunkt, über Harmonie gelernt hatten, vergessen mussten.

Wie kam eigentlich das strenge Korsett in Europa in die klassische Musik, wo es doch vorher so auf Improvisation aufbaute?

Man hat geglaubt, dass Fortschritt in der Musik möglich ist. Man ging also davon aus, dass das Neue immer das Bessere ist. Eine Vorstellung, die ja für die Kunst, für die Architektur längst nicht mehr galt.

Können Sie das erklären?

Es hängt mit der Renaissance zusammen. Etwa im 14. Jahrhundert entdeckte man, dass es zweitausend Jahre zuvor schon eine alte Zivilisation gab, die alle Künste hatte. Die griechische. Die hat man wiederbelebt. Nur die Musik fehlte. Keine einzige Melodie, keine einzige Komposition ist überliefert. Deshalb hat sich die Idee gehalten, dass jeder neue Komponist bessere Musik macht als der davor. Das ging bis ins 19. Jahrhundert – da kamen Mozart und Haydn und die wurden für den Höhepunkt der Komposition gehalten.

Soll heißen, all die anderen Komponisten davor und in all den anderen Ländern waren nichts.

So ähnlich. 1829 allerdings passierte etwas Großartiges, als ein junger Komponist und Dirigent zum ersten Mal ein altes Werk aufführte, also eins, das vergessen war.

Wer?

Felix Mendelssohn-Bartholdy. Er hat die Matthäuspassion von Bach aufgeführt, eine damals 100 Jahre alte Komposition. Das war ein Schock. Da erst kapierte man, dass es keinen Fortschritt in der Musik gibt. Mozart und Beethoven sind nicht besser als Bach. Sie sind anders.

Gibt es einen Komponisten, den Sie wiederentdeckt haben und der Ihnen besonders viel bedeutet?

Ach, es gibt viele, die ich liebe. Saint-Colombe, Marais für die Viola da Gamba. Für Vokalmusik Monteverdi, Morales. Bis in die sechziger Jahre hat fast niemand mehr sie gekannt. Mich freut, dass diese alte, ruhige Musik voll Melancholie, voll Sehnsucht auch junge Leute anspricht. Das zeigt: Neben Musik mit einem starken Dumdumdum brauchen wir auch Musik, die an Zärtlichkeit appelliert. Ich habe immer gedacht: Die schönsten Sachen, die ein Mensch zu einem anderen Menschen sagt, sagt er leise.

„Ich liebe dich“, brüllt niemand, meinen Sie das?

Auch in der Musik sind die zarten Momente die schönsten. Nehmen Sie die Johannespassion. Der schönste Moment ist der Tod Jesu, wenn der Countertenor begleitet von der Viola da Gamba singt: Es ist vollbracht. Das ist, als sterbe man selbst. Und das schafft die Viola da Gamba. Sie wird nur in diesem Moment gespielt, während der ganzen Passion.

Der Gambist bei einem Konzert in New York. Vergangene Woche wurde er 75 Foto: Jennifer Taylor/NYT/Redux/laif

Wie konnte die Viola da Gamba in Vergessenheit geraten?

Man dachte, das Cello ist stärker, hat nur vier Saiten, ist einfacher zu spielen und kann das besser, was die Gamba mit sieben Saiten macht. Aber das stimmt nicht. Nie würde man bei Bauwerken so denken: Was uns eine alte Kathedrale, eine alte Moschee, eine alte Synagoge gibt, ist reine Kunst und Spiritualität – also mehr als Religion, als Glaube.

Wie meinen Sie das?

Religion ist wichtig, aber in dem Moment, wo wir uns an die Grenze eines bestimmten Glaubens halten, sind wir selbst begrenzt. Vor allem, wenn wir ihn für den einzig wahren Glauben halten. Das ist dann der Grund von Konflikten, von Kriegen. Kunst schafft es, dass wir trotz unterschiedlichen Glaubens zusammenfinden.

Sie bewegen sich in Ihren musikalischen Projekten gern rund ums Mittelmeer und nehmen musikalische Einflüsse aus den Ländern auf. Wie ist das für Sie, dass das Mittelmeer heute ein Grab ist?

Wir sind jetzt mittlerweile seit mehr als 5.000 Jahren in eine Politik der Kriege, eine Kultur der Kriege verstrickt. Es gibt ein Attentat und was macht man? Man schickt Flugzeuge, um Länder zu bombardieren, die man in Zusammenhang bringt mit dem Attentat. Aber die Leute, die es gemacht haben, sind Einzelpersonen, es sind keine Länder. Wir aber reagieren mit Krieg. Und was ist das Resultat? Vor zehn Jahren gab es dreißig Millionen Flüchtlinge weltweit, heute sind es doppelt so viele. Weil wir mit Gewalt auf Gewalt reagieren.

Ja, warum?

Wissen Sie, das Problem ist, dass der Mensch ein so kurzes Gedächtnis hat. Als Hitler 1942 die Auslöschung der Juden plante, fragte ihn ein General, ob er keine Angst habe, was die nächsten Generationen darüber sagen werden. Er antwortete: Wer erinnert sich noch an die Armenier. Der Genozid an den Armeniern war 1915, nur 27 Jahre zuvor. Es passierte in Bosnien, es passiert in Syrien. Wir sehen, wie Kinder dort jeden Tag sterben und reagieren nicht.

Reagieren Sie mit Ihren musikalischen Projekten?

Ich versuche es. Als der Krieg in Afghanistan anfing, habe ich Musiker aus Afghanistan eingeladen. Wir sagten: Mit Musik können wir uns verstehen, warum müssen wir Krieg machen? Als der Krieg in Syrien anfing, habe ich Musiker aus Syrien eingeladen und viele Konzerte mit ihnen gemacht. Ich war im Dschungel in Calais; bald gehe ich nach Griechenland und mache dort Musik mit Flüchtlingen. Man muss reagieren, aber man muss auch ein Gedächtnis haben. Wer erinnert sich heute, dass über 300 Jahre lang 35 Millionen Afrikaner versklavt wurden? Der Reichtum des Westens baut auf der Arbeit von Sklaven auf, Menschen die wir brutal aus ihren Dörfern entführt haben. Wer erinnert sich? Hat jemand je Entschuldigung gesagt? Niemand. Nach der Sklaverei fing dann die Kolonialisierung an. Unser Gedächtnis ist so kurz. Jeder dieser Afrikaner, der jetzt übers Mittelmeer hierherkommt, kann zu Recht sagen: Ich habe keine Arbeit in meinem Land und das ist Ergebnis eurer Politik, helft uns. Aber wir helfen nicht, wir denken nur darüber nach, mehr Geld zu machen. Das ist das Problem.

Kann Musik die Welt retten?

Damit die Musik helfen kann, muss man aufhören, Kriege zu führen. Wenn die Menschen kein Haus, keine Bildung, kein Essen haben, dann rettet die Musik die Welt nicht. Aber die Musik hilft. Die Musik der Sklaven ist schön. Sie ist das Letzte, das wir einem Menschen nehmen können.

Den Gesang meinen Sie.

Jordi Savall

Der Mann: spanischer Musiker und Gambist, ist am 1. August 75 Jahre alt geworden. Er studierte in Barcelona, Basel sowie in Belgien und wurde auch durch die Musik zum Film „Die siebente Saite“ bekannt. Savall erhielt unter anderem den Echo-Klassik-Preis. Er war lange mit der Sopranistin Montserrat Figueras verheiratet, die 2011 verstarb. Seit 2009 lehrt er an der Juilliard School in New York.

Die Viola: Savall, der vor allem alte Musik spielt, hat lange die in Vergessenheit geratene Viola da Gamba unterrichtet. Anders als die „Armgeige“ wird sie zwischen den Beinen gehalten oder auf den Schoß gestellt.

Ja. Warum ist die Musik von Völkern, die oft Opfer waren, die Juden, die Armenier, die Iren mit ihrem Hunger, so schön? Die Musik hat Ruhe und Hoffnung in ihre Herzen gebracht. Außer Musik gibt es nur noch zwei Sachen, ohne die wir nicht leben sollten: ohne Liebe und ohne Freundschaft.

Können Sie durch die Musik auch in Kommunikation treten mit Montserrat Figueras, Ihrer 2011 verstorbenen Ehefrau?

Nein, Kommunikation nicht. Ich habe meine Frau geliebt, ich habe viele Jahre mit ihr gelebt, sie ist ein Teil meiner Geschichte, ich habe sie in der Erinnerung. Es hat eine Zeit gedauert, aber ich habe ein neues Leben, ich habe jetzt eine Frau, die ich früher geliebt und wiedergetroffen habe. Man kann nicht ohne Liebe leben. Man kann von Erinnerungen nicht leben. Wenn ich aber Stücke spiele, die meine Frau gesungen hat, dann erinnere ich mich an sie, an ihre Stimme, an ihre Art. Es ist wie ein Aufflackern. Eine Nostalgie. Nur, ich muss akzeptieren, dass sie tot ist. Wenn Sie eine sehr geliebte Person verlieren, gibt es eine Zeit, in der Sie immer noch verbunden sind, in der es ist, als bluteten Sie aus, Ihre ganze Energie ist weg. Da müssen Sie Wege finden, wie man das heilen kann.

Sie haben einen Weg gefunden.

Ich hatte die Musik, jeden Tag habe ich die Gamba gespielt. Das hat mir auch geholfen, die Unpermanenz zu akzeptieren, also zu akzeptieren, dass etwas Anfang und Ende hat. Ich bin ja in einem Alter, wo ich auch an das Ende denke. Wenn ich morgens aufwache, denke ich: Schön, ich bin noch da. Jeder Tag könnte mein letzter sein. Wenn ich jemandem sagen will, ich liebe dich, werde ich das nicht aufschieben. Aber gleichzeitig habe ich Projekte für die nächsten fünf Jahre, und ich plane Dinge, die vielleicht noch zwanzig Jahre benötigen. Was mich am Leben hält, sind die utopischen Sachen, die ich noch machen möchte.

Welche?

Dostojewski sagte in „Der Idiot“: Schönheit wird die Welt retten. Meine Utopie ist es, dies zu realisieren. Wenn man alle Künste in die Erziehung einfließen lassen könnte, dann würden die Menschen eine Spiritualität erreichen, die besser wäre.

Die Gegner sind stark: Dschungelcamp, Drogen, Boulevardpresse.

Ja, deswegen. Ein russischer Schriftsteller sagte, ohne Utopie keine Kreativität.

Also noch mal die Frage von vorhin, ob es Passion oder Mission ist.

Beides. Wenn die Kultur nicht hilft, den Leuten eine bessere Qualität im Leben zu geben, dann ist die Kultur unnötig.

Waltraud Schwab, Redakteurin der taz.am wochenende, hat Lennons „Imagine“ wiederentdeckt und findet dessen Friedensbotschaft aktueller denn je

Piero Chiussi ist freier Fotograf in Berlin. Er hört gern „gute Musik“ – am liebsten Punk

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