Die Exilantin Die türkische Genderforscherin Nil Mutluer verlor in der Türkei ihren Job, weil sie eine Terroristin sein soll. An der Humboldt-Universität kann sie nun dank eines Stipendiums zwei Jahre lang forschen. Ein Gespräch über gutes Timing, die Lage von Intellektuellen in der Türkei und die Bedürfnisse Dreijähriger in der Großstadt
: „Es gibt nur zwei Wege: sich selbst zensieren oder das Land verlassen“

„Ich bin eine hochpolitische Person“: Nil Mutluer auf der Straße Unter den Linden, nahe der Humboldt-Universität

Interview Ralf Pauli
Foto Karsten Thielker

taz: Frau Mutluer, man könnte sagen, Sie hatten doppeltes Glück. Sie entgingen knapp dem Selbstmordanschlag am Flughafen Atatürk. Kurz darauf scheitert der Putsch gegen Erdoğan – mit drastischen Folgen auch für türkische WissenschaftlerInnen. Sind Sie erleichtert, zum richtigen Zeitpunkt nach Berlin geflohen zu sein?

Nil Mutluer: Wie kann man erleichtert sein, wenn man seine Heimat hinter sich lässt? Das ist nicht leicht. Natürlich ist der Alltag in Berlin ein ganz anderer als in Istanbul oder Ankara – besonders nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Erdoğan. Hier funktioniert der Rechtsstaat. Hier gibt es mehr politischen Freiraum. Das macht das Leben leichter für Leute wie mich, die unter staatlicher Beobachtung stehen. Wenn wir aber von Attentaten sprechen: Vor dem internationalen Terrorismus ist man nirgendwo mehr sicher. Das haben schon die Anschläge von Paris, Brüssel, Bagdad oder Qamishli gezeigt. Dass es auch Deutschland trifft, war nur eine Frage der Zeit.

Vermutlich leben Sie in der Türkei dennoch gefährlicher als hier: Die Regierung bezeichnet Sie als Terroristin, weil sie die Menschenrechtsverletzungen im Land anprangern. Sind Sie nicht erleichtert, außer Reichweite der türkischen Justiz zu sein?

Erleichtert würde ich nicht sagen. Das trifft es nicht. Ich bin eine hochpolitische Person. Neben der Wissenschaftlerin bin ich auch eine regierungskritische Menschenrechtsaktivistin. Und ich sehe Tag für Tag, dass in der Türkei Menschen sterben, nur weil sie Kurden oder Arbeiter oder Frauen oder LGBTi sind. Solange sich das nicht ändert, kann ich mich an keinem Ort der Welt erleichtert fühlen. Natürlich bin ich aber sehr froh, hier an der Humboldt-Universität zu sein und forschen zu dürfen.

In Istanbul haben Sie ein Institut geleitet. Jetzt kommen Sie als Philipp-Schwartz-Stipendiatin an die HU. Wie fühlt sich das für Sie an?

Die Position spielt für mich keine Rolle. Das Entscheidende ist, was ich schreibe, was ich publiziere, was ich sage. Die Ämter folgen dann automatisch. Als Institutsleiterin konnte ich die Personen anstellen, mit denen ich zusammenarbeiten wollte. Ich hatte die Macht, mein Umfeld nach meinen Wunsch zu gestalten. Das ist natürlich schön. Aber für mich ist das Stipendium eine tolle Möglichkeit, mich für die kommenden zwei Jahre auf meine Arbeit zu konzentrieren.

Können Sie das nach allem, was gerade in Ihrer Heimat passiert?

Ich fühle mich privilegiert, dass ich das Land verlassen konnte. Gleichzeitig fühle ich mich schuldig, dass ich meiner Heimat den Rücken kehre. Ich lasse viele Freunde und Kollegen im Stich. Ich spüre eine Verantwortung, jetzt auch meine Möglichkeiten an der HU zu nutzen und viel zu publizieren. Und ich bin sicher, Berlin ist dafür ein guter Ort. Er setzt viele Energien frei. Nach der offiziellen Begrüßung an der HU bin ich beispielsweise in das Museum Hamburger Bahnhof gegangen, eine tolle Ausstellung. So etwas hat mir in Istanbul gefehlt: dass man sich zwischendrin etwas Gutes tun kann. Etwas für die Seele. Das ist gut für die Kreativität. Berlin inspiriert mich.

Sie waren schon mehrmals in Deutschland. Was unterscheidet Istanbul von Berlin?

Istanbul ist sehr viel größer, die Viertel sind stärker sozial durchmischt. Vor zehn Jahren war Istanbul noch eine Kulturmetropole. Doch jetzt zeigen sich zunehmend die Folgen neoliberaler Politik. Es gibt kaum mehr Grünanlagen. Viele Parks mussten schon weichen. Und es ist sehr voll, wir haben sehr viel Verkehr. Wenn man nach Berlin kommt, fällt sofort auf, wie grün und ruhig es hier ist. Da gewinnt Berlin eindeutig.

Und sonst?

Ein anderer Unterschied ist das Verständnis von Pluralität. In Deutschland verbindet man damit die verschiedenen Zuwanderergruppen. In der Türkei sind es hingegen plurale Identitäten, die seit Jahrhunderten existieren: Armenier, Kurden, Aleviten. Die deutsche Pluralität ist jung.

Apropos jung. Was sagt eigentlich Ihre dreijährige Tochter zu Berlin?

Im ersten Moment war es nicht leicht für sie, dass wir die Türkei verlassen. Ihre einzige Frage war: „Mama, gibt es dort mehr Parks als in Istanbul?“ Sehen Sie: Sogar so ein kleines Mädchen leidet schon an der neoliberalen Städteplanung in Istanbul. Dann habe ich ihr erzählt, dass Berlin eine tolle Stadt mit vielen Parks ist, und sie war beruhigt. Noch ist sie aber nicht bei mir. Es ging alles so schnell. Wenn ich eine Wohnung gefunden habe, kommt sie nach.

Wo wollen Sie wohnen: dort, wo auch viele andere Türken wohnen?

Nil Mutluer

Der Mensch: 41 Jahre, geboren in Ankara, aufgewachsen in Istanbul. Sie hat eine dreijährige Tochter.

Die Wissenschaftlerin: Mutluer studierte Internationale Beziehungen und Cultural Studies. Ihre Doktorarbeit machte sie in Gender Studies an der Central European University in Budapest. Zuletzt leitete sie das Institut für Soziologie der privaten Nişantaşı-Universität. Weil sie die „Academics for Peace“-Petition unterzeichnete, wurde sie entlassen. Seit Juli ist sie für zwei Jahre Philipp-Schwartz-Stipendiatin an der HU Berlin. Das Interview wurde auf Englisch geführt.

Die Aktivistin: Nil Mutluer ist Mitglied mehrerer türkischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen. Bis vor Kurzem koproduzierte sie die wöchentliche TV-Politsendung „ÖteBeri“ (IMC Tv). An einer armenischen Schule unterrichtete sie das Fach Menschenrechte. (rp)

Am liebsten würde ich in Kreuzberg oder Schöneberg wohnen. In der Nähe ist der Kindergarten meiner Tochter. Es gibt sicher auch viele andere schöne Ecken in Berlin, die ich noch nicht kenne. Aber man muss auch erst mal eine Wohnung finden. Ich habe schon festgestellt, dass das in Berlin nicht so leicht ist. Türken in meiner Nachbarschaft sind mir nicht so wichtig. Erstens werde ich viel an der HU sein und arbeiten. Und zweitens bin auch gern im Ausland, um anderes zu sehen und zu lernen.

Die deutsche Sprache?

Ich will definitiv Deutsch lernen. Ich werde auch einen Sprachkurs besuchen. Ich verstehe aber schon ein bisschen.

Sie mussten Ihre Heimat überstürzt verlassen. Haben Sie etwas mitnehmen können, was Ihnen das Leben im Exil erträglicher macht?

Ich habe wie immer meine Halstücher bei mir. Und auch meine „Nazar Boncuğu“, Talismane gegen den bösen Blick. Ich habe eine ganze Sammlung aus verschiedenen Regionen in der Türkei und des Mittleren Ostens. Was ich in Berlin definitiv machen werde, ist, meinen Raki trinken. Aber das ist ja Gott sei Dank kein Problem, den hier zu bekommen.

Wie gut kennen Sie Berlin eigentlich schon?

Ich mag Mitte und Kreuzberg. Und ich freue mich, dass die HU sehr nah an der Museumsinsel ist. Ich war schon viele Male in Berlin, beruflich und privat.

Wann denn?

Das erste Mal kam ich 2009 für eine Konferenz hierher. Wir hatten gerade beim Filmfestival in Antalya den Goldenen Orange Award für den Dokumentarfilm „Me and Nuri Bala“ gewonnen. Darin geht es um das Leben von Esmeray, die erste Trans*, die in der Türkei als Stand-up-Comedian arbeitet. Eine tolle, witzige Person. Ich war damals Beraterin für den Film. In Berlin sollte ich darüber eine Rede halten. Was mir damals auffiel, war, dass Berlin zwar eine sehr weltoffene Stadt ist und viele Meinungen toleriert. In Istanbul aber hatten wir zu der Zeit viele kritischere Debatte unter Intellektuellen als in Europa – gerade beim Umgang mit der LGBT-Community. Da waren wir damals weiter.

Das Thema Ihrer Forschung an der Humboldt-Universität ist „The Masculine Authority in Turkey“. Klingt nach einer Erdoğan-Biografie.

Ist es auch ein bisschen. Ich habe mir vorgenommen, ein Buch über die jüngsten Demokratieerfahrungen unter der AKP-Regierung zu schreiben. Da geht es nicht nur um Erdoğan, sondern auch um die verschiedenen Identitäten in der Türkei: Muslime, Kemalisten, Türken, Armenier, Kurden, Aleviten. Wir sollten nicht vergessen, dass die Türkei nie eine richtige Demokratie war. Die Rechte für gläubige Muslime oder Frauen waren lange sehr beschnitten. Ich erinnere mich noch an die Debatte über das Kopftuchverbot, das bis 2008 galt. Ich habe gute Freundinnen, die Kopftuch tragen. Die AKP hat das Verbot damals aufgehoben. Das war richtig. Das Problem ist aber, dass die Regierungspartei das Thema so politisiert. Diese Mentalität steht der Demokratie im Weg. In meinem Buch will ich zeigen, wie der Traum einer demokratischen Türkei, den wir vor 15 Jahren hatten, zu einem Albtraum wurde.

Nach dem Putschversuch geht Erdoğan gezielt gegen Beamte und Akademiker vor. Binnen einer Woche mussten rund 1.600 Dekane zurücktreten, mehr als 700 Akademiker wurden entlassen. War es für ProfessorInnen in der Türkei vorher weniger gefährlich?

Die Situation hat sich für uns Akademiker sicher verschärft. Für Erdoğan waren wir aber auch davor schon Terroristen. Anfang Januar traf sich eine Gruppe von Akademikern – die „Academicians for Peace“ –, um eine gemeinsame Petition zu veröffentlichen. Darin haben wir den Staat aufgefordert, bestehende Gesetze einzuhalten und die unverhältnismäßige Gewalt in den Kurdenprovinzen zu stoppen. Mehr nicht, eine Unterschrift auf einem Stück Papier. Eine friedlichere Form des Aktivismus gibt es nicht. Auf Anhieb haben 1.128 Akademiker unterzeichnet. Man muss dabei bedenken: Wenn sich so viele Leute, die in sehr vielen Punkten sehr unterschiedliche Auffassungen haben, zusammentun, um laut gegen die Gewaltverbrechen des Staates an der kurdischen Minderheit im Land auszusprechen, sollte das einer Regierung zu denken geben. Das Einzige, was wir verlangen, ist, dass der Staat seine eigenen Gesetze einhält.

„Ich spüre eine Verantwortung, jetzt meine Möglichkeiten an der HU zu nutzen und viel zu publizieren. Berlin ist dafür ein guter Ort. Er setzt viele Energien frei“

Und wie hat der Staat auf die Petition reagiert?

Erdoğan bezeichnete uns als Verräter und Unterstützer einer terroristischen Organisation, in nicht weniger als fünf öffentlichen Reden. Eine der ihn unterstützenden Zeitungen hat sich zehn Unterzeichner ausgesucht, einschließlich mir, und unsere Namen samt Fotos veröffentlicht. Das Blatt schrieb, dass unser Verbrechen noch schwerwiegender sei als das der anderen, weil wir uns einige Jahre zuvor öffentlich für den Völkermord an den Armeniern entschuldigt hatten.

Was passierte dann?

Ich wurde aufgefordert, von der Institutsleitung an meiner Universität zurückzutreten. Natürlich habe ich mich geweigert. Anfang Februar wurde ich von der Universität gefeuert, auf Druck der Regierung. Allein an meiner Uni verloren sechs Akademiker ihren Job. Landesweit waren es bestimmt 40. Manche KollegInnen wurden nach dem öffentlichen Pranger auch von nationalistischen Gruppen bedrängt, vor allem in Anatolien. Ein hochrangiger Nationalist hat öffentlich gesagt, er wolle sich in unserem Blut duschen. Stellen Sie sich das vor! Und der Staat duldet es, dass jemand aufruft, uns zu jagen.

Türkische Nationalisten gibt es auch in Deutschland. Vor Kurzem wurden türkischstämmige Abgeordnete des Bundestags bedroht, weil sie den Völkermord an den Armeniern vor hundert Jahren als Genozid bezeichneten. Nun gehen auch in Deutschland Tausende für Erdoğan auf die Straße. Rechnen Sie mit Konflikten bei Ihrer Arbeit?

Ich habe mitbekommen, wie die türkische Community in Deutschland die Resolution wahrgenommen hat. Das war in der Türkei ja ein Riesenthema. Ob ich wegen meiner Meinung hier Probleme mit Türken bekomme? Wir werden sehen. Ich komme ja gerade frisch hier an und kenne die türkischen Communitys hier noch nicht. Ich lasse mich aber nicht einschüchtern.

Trotzdem sind Sie aus der Türkei geflohen!

In den vergangenen Jahren ist der Raum für die Zivilgesellschaft immer enger geworden, besonders seit den Parlamentswahlen im Juni, als die prokurdische Partei HDP mehr als 80 Sitze gewinnen konnte. Die Regierung hat daraufhin beschlossen, Chaos im eigenen Land zu stiften. Die Türkei ist heute für niemanden mehr sicher. Vor allem nicht für Intellektuelle und Aktivisten, die Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte fordern. Das war früher nicht so. Anfang der 2000er Jahre dachten wir: Die EU nimmt die Türkei auf, in unserem Land geht es vor­an und wir linken Intellektuellen spielen eine entscheidende Rolle dabei. Doch heute müssen wir feststellen: Es ist schlimmer als je zuvor, auch weil radikale islamistische Gruppen wie der IS im Land agieren und die Regierung sie toleranter behandelt als linke Gruppierungen. Wir verlieren jeden Tag wertvolle Menschen. Leute, die sich für Versöhnung einsetzen.

Wann haben Sie sich denn entschlossen, das Land zu verlassen?

Über Istanbul und Berlin:

„Vor zehn Jahren war Istanbul eine Kulturmetropole. Jetzt zeigen sich die Folgen neoliberaler Politik. Viele Parks mussten weichen, wir haben sehr viel Verkehr. Wenn man nach Berlin kommt, fällt sofort auf, wie grün und ruhig es hier ist“

Ich hatte einfach Glück, dass KollegInnen von Academiciens for Peace meinen Lebenslauf rumgeschickt haben. Ich war unmittelbar nach den Vorfällen viel im Ausland, um auf unsere Situation in der Türkei aufmerksam zu machen. Plötzlich hatte ich eine E-Mail von Gökçe Yurdakul, die an der Humboldt- Universität Diversity and Social Conflict lehrt. Sie bot mir an, für mich das Philipp-Schwartz-Stipendium zu bekommen. Wir kennen uns nur vom Namen, wir forschen zu ähnlichen Themen. Ich bin aber sehr dankbar für die Solidarität. Kurz dar­auf hatte ich die Zusage. Und neben mir erhielten noch fünf weitere KollegInnen von den Academiciens for Peace ein Stipendium. Auch sie kommen nach Deutschland.

Glauben Sie, dass bald alle türkischen Intellektuellen im Exil sein werden?

Ehrlich gesagt: ja. Das fürchte ich. Womit sollen wir in der Türkei unser Geld verdienen? Wir erleben Tag für Tag, wie Kollegen von uns verhaftet werden. Genau wie Journalisten oder Menschenrechtsaktivisten. Es kann jeden von uns treffen. Und genau deswegen kommen wir überhaupt nicht mehr zu unserer Arbeit. Man geht in die Bibliothek und erhält einen Anruf, dass ein Freund im Gefängnis ist. Oder man sitzt plötzlich selbst im Knast oder steht vor Gericht. Es gibt nur zwei Wege: sich selbst zensieren, wenn man das kann, oder das Land verlassen.

Für die kommenden zwei Jahre können Sie ohne Furcht forschen und publizieren. Ist es möglich, dass Sie nach der Zeit nicht mehr in die Türkei zurückwollen?

Natürlich ist das möglich. Ich liebe es, hier zu sein. Berlin ist eine tolle Stadt, intellektuell und kulturell. Ich bin sehr froh, mich hier endlich wieder voll auf meine wissenschaftliche Arbeit konzentrieren zu können. Ich werde hier dieselben Ding sagen und schreiben wie auch in der Türkei.

Sie gelten nun ganz offiziell als bedroht und erhalten Geld vom Auswärtigen Amt. Können Sie denn mit dem Stigma der Dissidentin jemals wieder dauerhaft zurückkehren in die Türkei?

Das kommt stark darauf an, wie sich das politische Klima dort entwickelt. In den 1980er Jahren gab es schon einmal eine Gruppe kritischer Professoren, die wegen einer ähnlichen Petition ihre Jobs verloren haben. Zehn Jahre mussten sie warten und in der Zwischenzeit etwas anderes machen. Heute lehren sie wieder an türkischen Hochschulen. Die Risiken für Intellektuelle bestehen also schon länger. Wenn ich eines Tages nicht mehr in meine Heimat zurückkönnte, wäre das sehr schlimm für mich.