„Olympia 36 war Nebensache“

Historisches Erbe Als Sportstaatssekretär war Hans-Jürgen Kuhn 1989/90 der erste Olympiaplaner West-Berlins nach den Nazi-Spielen. Ein Gespräch

Hans-Jürgen Kuhn

Foto: privat

war 1989/90 im ersten rot-grünen Senat unter Walter Momper Sportstaatsekretär und bis 2013 Referatsleiter im Brandenburger Ministerium für Bildung, Jugend und Sport.

Interview Martin Krauss

taz: Herr Kuhn, Sie waren 1989/90 im ersten rot-grünen Senat unter Walter Momper der Sportstaatssekretär – und damit auch erster Olympiaplaner West-Berlins. Wie wichtig war da ein kritischer Umgang mit den Spielen von 1936?

Hans-Jürgen Kuhn: Der Plan für eine Berliner Olympiabewerbung kam von der SPD, und bei der betraf das Erbe von 1936 eher formale Aspekte. Damit das Thema Olympia nicht zerredet wird, war es der SPD wichtig, dass eine Bewerbung schon im Koalitionsvertrag verankert war. Aber eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit der Geschichte war da nicht vorgesehen.

Und wie sah es in Ihren ersten Konzepten aus?

Es stellte sich ja schon konkret die Frage, was man mit dem Gelände von 1936 macht. Zum Beispiel überlegten wir, ob eine Eröffnungs- oder Schlussfeier wirklich im Olympiastadion stattfinden muss. Wir hatten da eher an die Straße des 17. Juni und an das Brandenburger Tor gedacht.

Was war noch geplant?

Wir wollten ein historisches Symposium über die Bedeutung der Olympischen Spiele 1936 für das NS-Regime durchführen, zusammen mit dem Nationalen Olympischen Komitee (NOK) und etlichen kritischen Sportwissenschaftlern. Das NOK war schon da zögerlich. Ich hatte dann irgendwann in einem Interview von den „Lebenslügen des deutschen Sports“ gesprochen: dass die Verbände nicht so tun sollten, als seien sie von den Nazis missbraucht worden, sondern dass es große Affinitäten zwischen Sport und Na­tio­nalsozialismus gab. Das hat Willi Daume, den Präsidenten des NOK, sehr aufgebracht.

Olympiastadion: Früher fasste die Arena 100.000 Zuschauer, nach diversen Umbaumaßnahmen sind es heute noch 74.000 Plätze. Zum architektonischen Ensemble gehört auch das Schwimmstadion, in dem 1978 die Schwimm-WM ausgetragen wurde. Das Hockey- und das Reiterstadion grenzen ebenso an wie die Waldbühne, die Sportrasenfläche Maifeld und der Glockenturm. Im Außenbereich des Stadions stehen Athletenstatuen des nationalsozialistischen Bildhauers Arno Breker. Als Treffpunkt dient heute noch die Olympiaglocke am Südtor: Über ein auf deren Außenseite befindliches Hakenkreuz wurde etwas Blei gegossen; das NS-Symbol ist allerdings noch sichtbar.

Waldbühne: Für das Kulturprogramm der Olympischen Spiele wurde 1936 die Waldbühne als Dietrich-Eckart-Freilichtbühne eröffnet, benannt nach einem frühen Nazidichter. Während der Spiele fanden dort Turnwettkämpfe statt. Im Jahr 2015 wurden in der Waldbühne die European Maccabi Games eröffnet, das größte europäische Sportfest für Juden.

Zwangsarbeitslager Marzahn: Pünktlich für die Olympischen Spiele wurden auf den „Zigeunerrastplatz Marzahn“, wie die Nazis das Lager nannten, 1.200 Sinti und Roma deportiert. Es liegt nahe dem heutigen S-Bahnhof Raoul-Wallenberg-Straße. ­Offiziell wurde das Lager von den Nazis 1943 aufgelöst, die meisten Menschen wurden nach Auschwitz deportiert. Noch bis 1947 waren in dem Lager Familien untergebracht.

KZ Columbia-Haus: Vom Januar 1935 bis November 1936 war am Columbiadamm in Tempelhof ein KZ untergebracht. Prominente wie der Rabbiner Leo Baeck oder der KPD-Funktionär Erich Honecker saßen hier ein. Auch der Kommunist Werner Seelenbinder, als Ringer Teilnehmer der Olympischen Spiele von Berlin, war hier inhaftiert. Das frühere KZ liegt zu einem großen Teil auf einem nicht zugänglichen und von der Bundeswehr genutzten Bereich des Tempelhofer Feldes.

Regattastrecke Grünau: Eröffnet wurde die Strecke 1880. Für die Olympischen Spiele wurde eine Tribüne für 9.000 Zuschauer errichtet, sie ist heute noch im Einsatz. Als bislang letztes Großereignis fand 2010 eine Motorboot-WM statt. Am 13./14. August wird die Deutsche Drachenboot-Meisterschaft ausgetragen. (mak)

Und das IOC?

Ich glaube, auf der Ebene des IOC hätte man sich an unserer Aufarbeitung von 36 nicht so sehr gestört. Das war für die nebenrangig. Der damalige IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch hatte in Spanien eine faschistische Vergangenheit, also diesbezüglich selbst Probleme. Was das IOC am meisten an unserer Bewerbung störte, war die Idee der Nachhaltigkeit: dass Sportstätten, die nur einmalig gebraucht werden, auch wieder rückgebaut werden müssten – aber auch so Kleinigkeiten, dass wir kein Einweggeschirr wollten.

Der Senat hat sich nicht an Ihre Seite gestellt …

Es gab einen Aktenvermerk aus der Senatskanzlei, darin hieß es: Über die Idee mit dem Brandenburger Tor als Ort der Eröffnungsfeier müssen wir reden, aber erst, wenn wir die Spiele haben.

Also Ihre Anfangsüberlegung, dass Berlin sich erst einmal mit der historischen Hypothek beschäftigen muss, wenn es die Spiele will, wurde in der Senatskanzlei nicht geteilt?

Die Idee, Olympische Spiele in Berlin auszurichten, hatte 1988 schon Walter Momper (SPD), der Regierende Bürgermeister der ersten rot-grünen Koalition. Aber auch sein Nachfolger Eberhard Diepgen (CDU) verfolgte das Projekt weiter, zumal es jetzt Ost-West-Spiele werden sollten. Eine „Olympia Berlin 2000 GmbH“ wurde gegründet, die durch Skandale auf sich aufmerksam machte, so dass sich eine breite NOlympics-Bewegung formierte. Mit 9 von 88 möglichen Stimmen scheiterte Berlins Olympiabewerbung. (mak)

Genau. Die planten und argumentierten genau andersrum. Die Beschäftigung mit Olympia 36 galt hier nur als Nebenaspekt.

Bei der Bewerbung Münchens um die Winterspiele 2018 fiel auf, dass gar kein Bezug auf die Spiele 1936 in Garmisch-Partenkirchen genommen wurde.

Bei München stellte sich die Frage der historischen Bedeutung in der Tat weniger als in Berlin, da gibt’s ja auch keine Monumentalbauwerke, deren Nutzung zu diskutieren wäre. Wichtiger in der Wahrnehmung der Bevölkerung waren die ökonomischen und ökologischen Folgen. Die Sensibilität für nachhaltig zerstörerische Eingriffe in den Naturhaushalt und die Ignoranz, mit der die Planer über diese Bedenken hinweggingen.

Berlin als Bewerberstadt wird ja immer wieder mal vorgeschlagen. Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dem Projekt, an dem Sie beteiligt waren?

Jesse Owens: Der überragende Athlet der Spiele war Jesse Owens, der vier Mal Gold gewann: 100- und 200-Meter-Lauf, Weitsprung und mit der 4x100-Meter-Staffel. Bekannt ist, dass er sich mit dem deutschen Weitspringer Luz Long, der Silber gewann, anfreundete. Historisch unklar ist, ob Adolf Hitler sich wirklich weigerte, dem Afroamerikaner die Hand zu drücken. Kaum bekannt ist jedoch, dass Owens in der Staffel nicht laufen wollte. „Ich hab doch schon drei goldene“, soll er zu seinem Trainer gesagt haben, „ich bin müde, lass doch Marty und Sam laufen. Sie haben es verdient.“ Marty Glickman und Sam Stoller waren ursprünglich für die US-Staffel nominiert. Weil sie Juden waren und weil Teile des US-Teams auch sehr antisemitisch eingestellt waren – allen voran der damalige Chef des US-Nationalen Olympischen Komitees (NOK) Avery Brundage („In meinen Club in Chicago dürfen auch keine Juden hinein“) –, wurden Glickman und Stoller aussortiert. 1998 entschuldigte sich das US-NOK.

Gretel Bergmann: Beste Hochspringerin in Deutschland war die 22-jährige Gretel Bergmann aus dem württembergischen Laupheim. Weil sie Jüdin war, wollte die NS-Sportführung sie nicht im deutschen Team sehen. Internationale Zusagen an das Internationale Olympische Komitee, wonach sehr wohl Juden für Deutschland starten dürften, glaubte man mit der Zulassung der als „Halbjüdin“ eingestuften Fechterin Helene Mayer zur Genüge erfüllt haben. Als Jüdin war Bergmann schon 1933 aus ihrem Leichtathletikverein ausgeschlossen worden. Als sie doch bei der württembergischen Meisterschaft antrat, stellte sie den damaligen deutschen Rekord von 1,60 Metern ein. Kurz vor Beginn der Spiele wurde ihr von der NS-Sportführung mitgeteilt, dass sie nicht gut genug sei. Bergmann konnte in die USA emigrieren, sie lebt im Alter von 102 Jahren in einem Seniorenheim in New York. Ihr damaliger Rekord wurde 2009 vom Deutschen Leichtathletikverband offiziell anerkannt.

Werner Seelenbinder: Er war Ringer und Kommunist, beides mit großer Leidenschaft. Werner Seelenbinder war mehrmals Deutscher Meister und wurde gleich 1933 von der Gestapo verhaftet. Trotz aller Repressalien konnte er sich für die Olympischen Spiele qualifizieren – und galt dort als Favorit. Für die Siegerehrung hatte er eine Protestaktion gegen das NS-Regime geplant – wurde aber nur Vierter. 1942 wurde er verhaftet, 1944 enthaupteten ihn die Nazis. In der DDR wurde Seelenbinders Andenken hochgehalten, im West-Berlin des Kalten Krieges durfte ein Sportplatz an der Neuköllner Oderstraße, nahe dem Tempelhofer Feld, nicht nach dem Kommunisten Seelenbinder benannt werden. Erst seit 2004 gibt es dort den „Werner-Seelenbinder-Sportpark“. (mak)

Generell kann man sagen, dass die Wahrscheinlichkeit einer grundlegenden Reform und Modernisierung des IOC sehr gering ist. Darauf, dass Transparenz und Nachhaltigkeitsgedanken einziehen, sollte man nicht vertrauen. Zudem sind Sportereignisse dieser Größenordnung mittlerweile viel zu teuer, und sie führen infrastrukturell zu problematischen Verdrängungsprozessen. Wenn man sich bewirbt, muss die Stadt Einfluss nehmen können, was sie mit solchen Spielen will.

Welche Rolle müsste bei einer künftigen Bewerbung das historische Erbe spielen?

Ich glaube, dass Berlin in den kommenden zehn Jahren keine Bewerbung abgeben wird, dazu stehen andere Themen für die Stadtentwicklung zu sehr im Vordergrund. Je näher allerdings der Zeitpunkt 2036 heranrückt, umso relevanter wird die Frage nach dem Umgang mit dem historischen Erbe.