Kunst mit Piepen: Ein Brachvogel für Hitzacker
Der neue Intendant der Musiktage hat hochkarätige Virtuosen nach Hitzacker geholt und bespielt mit ausgefeilter Technik den Kurpark
Aber freuen wir uns nicht zu früh: Des Schnepfenvogels Rückkehr ist eine bloß akustische. Stattfinden wird sie im Kurpark von Hitzacker, und zwar als Kunstprodukt des französischen Komponisten Olivier Messiaen. Er hat zwischen 1956 und 1958 den „Catalogue d’oiseaux“ – den „Katalog der Vögel“ geschrieben. Das Stück besteht aus 13 – echte Vogelmelodien verarbeitenden – Vogelporträts für das Klavier. Das Werk wird gegen Ende der diesjährigen 71. Sommerlichen Musiktage Hitzacker erklingen, und dann ist es auch schon wieder vorbei mit des Brachvogels merkwürdiger Wiedererweckung.
Ökologisch-visionärer Beigeschmack
Denn bizarr ist es schon, dass der zuständige Pianist Pierre-Laurent Aimard ausgerechnet diesen Vogel für seinen Auftritt wählte. Andererseits konsequent: Auch für Messiaen stand jeder der 13 Vögel für eine Region Frankreichs; der Feuchtwiesen-affine Brachvogel siedelt im Elsass, in Lothringen, in der Bretagne und der Normandie. Jetzt wird er quasi adaptiert als Hitzacker-Symbol mit einem feinen ökologisch-visionären Beigeschmack.
Ins Werk gesetzt hat das Ganze der neue Intendant Oliver Wille, der für das Kammermusik-Festival gern den Kurpark nutzen wollte, aber partout nicht wusste, wie das akustisch gehen könnte. Irgendwann hat er gemeinsam mit Musiktechnikern ausgeklügelt, dass so eine Außenraum-Beschallung à la Stockhausen – der an dem Abend erklingt – möglich ist.
Aimard wiederum war sofort begeistert: Jetzt könne er das Messiaen-Stück, bei dem jeder Part aus anderer Distanz erklingen muss, endlich mal angemessen spielen. Brach- und andere Vogelstimmen werden also rechts, links, oben, unten vom Zuhörer erklingen, werden in einer akustischen Landschaft quasi eins mit ihm.
Das ist dann fast so metaphysisch wie der Beginn des Festivals. Da spielt nämlich Oliver Willes Kuss-Quartett Auszüge aus Joseph Haydns „Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz“. Das Stück setzt jede der sieben Sentenzen des gekreuzigten Jesus in einen langsamen Satz um. Haydn fand das schwierig, wollte ja nicht langweilen, aber es gelang: Mit langsamem Sterben kommt das Schweigen.
Das Kuss-Quartett spielt allerdings den kurzen „Terremoto“-Schlussteil: das Erdbeben, das der Bibel zufolge den Tod Jesu anzeigte und in dem sich Gott kurz und heftig offenbarte. Ein tief gründelndes spirituelles Stück, im Konzert mit den Zeitgenossen Harrison Birtwistle und Thomas Adès kombiniert. Die Auswahl überrascht, denn Oliver Wille ist gar nicht gläubig, kann nicht einmal die „sieben Worte“ hersagen.
Und nicht nur das: Wille, Kind der Ex-DDR, der mit 16 das Kuss-Quartett gründete und jetzt durchweg hochkarätige Kammermusiker nach Hitzacker holte, ist überhaupt nicht elitär veranlagt. Das sieht man nicht nur daran, dass das Kuss-Quartett schon in Berliner Techno-Clubs Klassik spielte, als andere davon noch träumten. Er will auch in Hitzacker dem Volk näher kommen, Studenten und Laien einbeziehen und sich nicht einmauern auf dem Hügel hoch über dem Städtchen
Klangroute durch die Dönerbude
Sicher: Er weiß, dass die auswärtigen Besucher den Großteil der 10.000 Besucher jährlich ausmachen und dass er auf diese Zugereisten dringend angewiesen ist. Aber er will auch den Nachwuchs bedienen, die „Akademisten“, die sich seit drei Jahren bewerben können und in Hitzacker unter anderem Social-Media- und Musikvermittlungs-Coachings bekommen. 15 junge Musiker aus ganz Europa sind es diesmal geworden, und anders als in den Vorjahren konzertieren sie fast jeden Tag.
Für den vorletzten Festivaltag werden sie sogar ein eigenes „Erlebniskonzert“ konzipieren: eine „Klangroute“ durch Läden in Hitzacker am Samstagmorgen; Wille selbst wird in der Dönerbude geigen. Aber ist das nicht ein bisschen viel Kommerz und Anbiederei? Wille sagt: Nein, die Hitzackerer sollten sich ruhig noch stärker mit ihrem Festival identifizieren, und da könne eine solche Aktion nur nützen.
Aber Hitzacker profitiert ja ohnehin touristisch von den Musiktagen; wer soll da noch agitiert, welcher Skeptiker „umgedreht“ werden? Oder gilt Dönerbude schon als Multikulti?
Abgesehen davon wird sich der Goodwill der Hitzackerer weiterhin auf warme Worte beschränken, denn für massives Sponsoring eignet sich die strukturschwache Gegend nicht; größere Unternehmen fehlen.
Das war bis 1989 nicht schlimm, da hat Hitzacker von der Zonenrandförderung profitiert. Die fällt seit der Wende weg, was der Region nicht unbedingt aufgeholfen hat.
Die 1946 von Ostflüchtlingen gegründeten Sommerlichen Musiktage Hitzacker hat das all die Jahre nicht gestört. Sie konnten gut gedeihen mit ihrem Mix aus 60 Prozent institutioneller und privater Förderung und 40 Prozent Kartenerlösen.
Kurz vor Weihnachten 2015 war der 400.000-Euro-Etat des Festivals aber plötzlich und überraschend in Gefahr: Ohne Angabe von Gründen teilte die „NDR Musikförderung in Niedersachsen“ dem Intendanten mit, dass er statt 70.000 Euro diesmal nur 55.000 und also 15.000 Euro weniger bekäme. Das Kultusministerium Niedersachsen kürzte parallel um 3.000 Euro, eine Stiftung musste aus Satzungsgründen aussetzen, eins kam zum anderen.
Oliver Wille und Christian Strehk, der gleichfalls neue Vorstandsvorsitzende der Gesellschaft der Freunde der Musiktage, erwischte es kalt. In dieser Dimension hatten Förderer weder unter den Vorgänger-Intendaten Carolin Widmann und Markus Fein noch unter der 2015 ausgeschiedenen Freundeskreis-Vorstandsvorsitzenden Linda Anne Engelhardt gekürzt. Hatte man sich bislang nur nicht getraut und den jetzigen Intendantenwechsel zum Anlass für lange geplante Kürzungen genommen? Begründungen gab es nicht, stattdessen die Flucht nach vorn: Gespräche zu Dutzenden, Überzeugungsarbeit, „denn für eine Verkleinerung des Festivals bin ich nicht angetreten“, sagt Wille. Und am Inhaltlichen könne die Kürzung ja nicht gelegen haben, denn das 2016er-Festival ist das erste von Wille geplante.
Der Marathon half: Wille zog das NDR-Kultur-Foyerkonzert nach Hitzacker, einen Konzertmarathon dreier Streichquartette. Er fand eine weitere Stiftung. Und bewegte den Deutschen Musikrat, die Uraufführung eines Stückes des Musikrat-Stipendiaten Damian Scholl zu finanzieren.
Das Defizit von rund 30.000 Euro ist also so gut wie aufgefangen, aber ganz stillhalten wollen die Festivalchefs nicht. Deshalb wird es 2016 erstmals den Programmpunkt „Publikum trifft Leitungsduo“ geben, passend zum diesjährigen Festivalmotto „Treff.Punkt Hitzacker“. Da werden sich der Intendant und der Freundskreis-Vorstand dem Publikum präsentieren und sicher auch über Geld sprechen.
Keine stabile Förderung
Außerdem wird er an der Tür des Saals, in dem das ökologisch-philosophische „Forum Nachhaltigkeit“ geplant war, ein Schild geben: „Wegen Rückzugs von Förderern ausgefallen“.
Ausgerechnet die Nachhaltigkeit fällt aus. Ist das nicht ein schlechtes Omen? Nein, das wollen weder Wille noch Strehk so sehen. Zwar wäre es „wünschenswert, eine stabile Förderung über drei Jahre zu bekommen“, sagt Strehk, akut bedroht sei das Festival derzeit aber nicht. Sollte sich derlei aber 2017 wiederholen, „kämen wir schon in die kritische Zone“, sagt er und verweist erneut auf die „Umwegrentablität“: darauf, dass – wie Studien belegen – für jeden von der öffentlichen Hand investierten Euro vier zurückkommen, etwa durch Hotel-Übernachtungen. „Die Musiktage Hitzacker sind kein Fass ohne Boden für irgendwelche abgedrehten Spezialisten“, sagt Strehk. „Sondern ganz konkrete Wirtschaftsförderung.“
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