: Massaker mit Ankündigung
Japan Der Hass auf geistig Behinderte ist offenbar das Motiv eines Japaners für die Morde an 19 Bewohnern eines Heims, in dem er früher selbst gearbeitet hat
Aus Tokio Martin Fritz
Gegen 2.30 Uhr am Dienstagmorgen war der Mann in das Heim für geistig Behinderte in Sagamihara 50 Kilometer südwestlich von Tokio eingedrungen, hatte Mitarbeiter der Nachtschicht gefesselt und die Bewohner mit Messern attackiert. 19 Menschen starben, darunter zehn Frauen und neun Männer im Alter zwischen 19 und 70. 25 Heiminsassen wurden verletzt, davon 20 schwer. Viele wiesen Stichwunden am Hals auf. „Diese Leute schliefen und waren schwer behindert, daher konnte er so viele töten“, sagte eine Anwohnerin im Fernsehen.
Nach den Morden stellte sich der ganz in Schwarz gekleidete Täter mit den Worten „Ich habe es getan“ der Polizei. Der Mann, der als der 26-jährige Satoshi Uematsu identifiziert wurde, begründete seine Taten damit, es sei besser, wenn es keine Behinderten gäbe. Kabinettssprecher Yoshihide Suga schloss jeden terroristischen Zusammenhang aus.
Japans größter Massenmord der Nachkriegszeit schockiert die Bevölkerung. Tötungsdelikte und politisch motivierte Anschläge wie in den 90er Jahren durch die Aum-Sekte sind selten. Jeder fünfte Mord und Totschlag in Japan geht auf das Konto des organisierten Verbrechens. Schusswaffenbesitz ist seit 1971 verboten. Sportwaffen sind extrem schwer zu bekommen. Im Jahr 2015 gab es nur einen einzigen Toten durch eine Schussverletzung. Amokläufer und Mörder benutzen daher oft Messer, obwohl das Mitführen von Messern mit einer Klingenlänge von mehr als neun Zentimetern untersagt ist.
Hass auf geistig Behinderte ist für Japan ein neues Motiv für ein Massaker. In dem Heim mit dem Namen Yamayuri En (Bergliliengarten) hatte der Täter nach seinem Schulabschluss seit Dezember 2012 gearbeitet, bis er im Februar aus „persönlichen Gründen“ kündigte. Uematsu wollte Lehrer werden und hatte dafür einen Eignungstest gemacht. Freunde und Nachbarn beschrieben ihn als „fröhlichen“ Menschen, der gerne auf Partys ging. Die Arbeit in dem Heim scheint ihn verändert zu haben.
Nach der Kündigung ging er zum Privathaus des Sprechers des japanischen Unterhauses. In einem Brief an ihn kündigte Uematsu das Massaker so an, wie es abgelaufen ist. „Ich träume von einer Welt, in der Behinderte in Frieden sterben können“, schrieb er. Diese Menschen säßen oft ihr ganzes Leben im Rollstuhl und hätten keinen Kontakt zu ihren Familienmitgliedern. Daraufhin wurde er als Gefahr für die Allgemeinheit für knapp zwei Wochen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Japanische Medien betonten, dass Blutproben Spuren von Marihuana enthalten hätten, als ob die Droge für das Massaker verantwortlich sein könnte.
Doch es gäbe noch eine andere Erklärung für seinen Hass. „Wir haben dieses dämonische Image von geistig Behinderten und mental Erkrankten“, sagt der Dokumentarfilmer Kazuhiro Soda, der in seinem Film „Seishin“ (2009) psychiatrische Behandlungen zeigt. Laut einigen Berichten werden psychisch Kranke in Heimen mit Medikamenten ruhiggestellt und nachts gefesselt. In Japan gilt Behinderung als soziales Tabu.
Früher versteckten viele Familien behinderte Angehörige aus Scham. Im der Öffentlichkeit sieht man sie kaum. Integrative Schulen sind die Ausnahme, Erkrankungen wie Autismus werden oft nicht erkannt. Die vorgeschriebene Beschäftigtenquote von zwei Prozent für Behinderte wird von weniger als der Hälfte der Firmen erreicht.
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