Olympia + Doping

Das Internationale Olympische Komitee hat sich jetzt entschieden: Nicht alle russischen Sportler*innen müssen zu Hause bleiben

Der besondere Weg zum Zuckerhut

Entscheidung Wie viele reisen nun nach Rio? Russische Sportler*innen, die in letzter Zeit von nichtrussischen Dopinglabors getestet wurden, dürfen mitfliegen. Der Kompromiss des IOC – wenige Tage vor Beginn der Olympischen Spiele – ist hoch umstritten

So high vor Glück: russische Goldmedaillengewinnerinnen in London 2012 Foto: Sergei Ilnitzsky/dpa

von Markus Völker

BERLIN taz | Die Abreise verzögert sich. Ein Teil des russischen Olympiateams wollte schon am vergangenen Freitag nach Rio de Janeiro fliegen. Jetzt startet die Maschine wohl erst an diesem Donnerstag vom Moskauer Flughafen Scheremetjewo. Wie viele Sportler im Flieger sitzen, ist noch unklar.

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat am Sonntagnachmittag verfügt, dass jeder Russe, der nach Rio will, eine besondere Prozedur über sich ergehen lassen muss: Die jeweiligen internationalen Sportverbände müssen schauen, wer in der letzten Zeit von der internationalen Antidopingagentur Wada oder von nichtrussischen Labors getestet worden ist. Wer den Nachweis seiner „Sauberkeit“ erbringt, darf starten am Zuckerhut.

Zuvor hatte das IOC unter dem Vorsitz von Thomas Bach einen Komplettausschluss der russischen Athleten von den Sommerspielen verworfen. Grund der Diskussion war ein Bericht der Wada, der systematisches Doping im russischen Sport festgestellt hatte – ebenso wie die Vertuschung von positiven Dopingproben in den Kontrolllaboren Moskau und Sotschi und weitere Vergehen, die von staatlichen Stellen aus geplant und gelenkt worden sind.

Weil es nur noch wenige Tage sind bis zum Beginn der Sommerspiele (5. August bis 21. August), gab es gestern schon die ersten Reaktionen von den Weltverbänden: Russische Tennisspieler und Judoka werden bei Spielen in Rio starten dürfen. Die Weltverbände ITF und IJF waren die Ersten, die sich nach der Entscheidung des IOC gegen einen Komplettausschluss Russlands äußerten.

Dann waren die Bogenschützen dran. Der Weltverband WA gab bekannt, dass Tujana Daschidorschjewa, Xenia Perowa und Inna Stepanowa die Starterlaubnis erhalten, sie seien intensiv getestet worden. Keine der drei Athletinnen war schon einmal wegen Dopings gesperrt. Weitere Freigaben werden erfolgen. Sie sind wohl nur eine Frage der Zeit.

Der Tennis-Weltverband empfiehlt, allen sieben nominierten russischen Spielern das Startrecht für Rio zu erteilen. „Die sieben russischen Nominierten sind Teil eines rigorosen Anti-Doping-Programms außerhalb ihres Landes“, schreibt die ITF und verweist auf insgesamt 205 Blut- und Urinkontrollen seit 2014: „Wir glauben, dass saubere Sportler das Recht haben, in Rio anzutreten.“ Unter anderem gehört die zweimalige Grand-Slam-Siegerin Swetlana Kusnezowa zum Aufgebot.

In einer Mitteilung unter dem Motto „Der saubere Weg nach Rio“ verwies der Judo-Weltverband auf seine „globale Anti-Doping-Strategie“ – 84 Prozent aller für Olympia qualifizierten Athleten seien bis vergangenen Dienstag im Training oder Wettkampf getestet worden. „Es wurde jede Gelegenheit genutzt, die Athleten zu kontrollieren“, teilte der Verband mit. Drei Tage zuvor hatte bereits IJF-Präsident Marius Vizer den „sauberen russischen Athleten“ seine Unterstützung zugesichert: „Wir hoffen, dass sie dabei sein dürfen. Russland ist für das Judo sehr wichtig.“ Der russische Staatspräsident Wladimir Putin, einst selbst Judoka, ist IJF-Ehrenpräsident und dürfte hoch erfreut sein über die Entscheidung des Weltverbandes.

„Anti-Doping-Kampf wird so zur Farce“

Derweil reißt die Kritik am IOC-Beschluss nicht ab. Die Vorsitzende des Dopingopferhilfe-Vereins, Ines Greipel, eine frühere Sprinterin des SC Motor Jena, sagte, sie finde das Ganze „entsetzlich für den olympischen Sport“. Olympia werde so „zum Desaster und der Anti-Doping-Kampf zur Farce. Rio ist beschädigt, noch bevor es startet.“

„Ich habe große Zweifel, dass da überhaupt eine verantwortungsvolle Prüfung stattfindet“

Dagmar Freitag, Vorsitzende des Sportausschusses im Deutschen Bundestag

Der CDU-Sportpolitiker und ehemalige Reck-Weltmeister Eberhard Gienger sagte: „Bei den erdrückenden Beweisen zum staatlich gestützten Dopingsystem in Russland hätte man sich einen kompletten Ausschluss gewünscht. Die Öffnungsklausel hat eine symbolträchtige Zeitenwende zunichte gemacht.“ Bestürzt zeigte sich die SPD-Politikerin Dagmar Freitag, bestürzt darüber, „wie schnell die ersten Weltverbände sämtliche nominierten Athleten aus Russland durchgewinkt haben. „Ich habe große Zweifel, dass da überhaupt eine verantwortungsvolle Prüfung stattfindet“, sagte die Vorsitzende des Sportausschusses im Deutschen Bundestag.

Freitag, auch Vizepräsidentin des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, hatte die Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees „als schlechtestes Zeichen überhaupt“ bezeichnet.

Kritisiert wird auch der Umgang des IOC mit der russischen Whistleblowerin Julia Stepanowa, die mittlerweile in den USA lebt. Die 800-Meter-Läuferin darf in Rio de Janeiro nicht an den Start gehen, weil ihr Dopingvergehen in der Vergangenheit offensichtlich schwerer wiegt als ihre Aufklärungsarbeit in der Gegenwart; Stepanowa wurde allerdings vom IOC als Gast zu den Olympischen Sommerspielen eingeladen.

„Ich bin mit diesem Beschluss nicht einverstanden. Das war mir zu viel Rücksicht auf Russland“, sagte das deutsche IOC-Ehrenmitglied Walther Tröger. Stepanowa sei „innerhalb eines staatlich gelenkten Systems zum Doping gezwungen worden“.