Stadtgespräch
: Geisterstimmen

Wie eine seltsame Wahl im Parlament zu Spekulationen über eine mögliche Regierungsbildung führt

Reiner Wandler aus Madrid

Es kam für alle überraschend. Als das neue spanische Parlament Anfang der Woche das Präsidium wählte, erhielten die Kandidaten der konservativen Partido Popular (PP) und der rechtsliberalen Ciudadanos zehn Stimmen mehr, als zu erwarten waren. Plötzlich hatten sie die Mehrheit.

Die Sozialisten (PSOE) und die Vertreter der Antiausteritätspartei Unidos Podemos hatten alle, so zeigten die Zahlen, für ihre Kandidaten gestimmt und unterlagen. Bleiben die kleinen, nationalistischen Parteien aus Katalonien und dem Baskenland. „Wir waren es nicht. Wir haben dagegen gestimmt“, erklärte einer ihrer Sprecher auf die Fragen der Journalisten, drehte sich um und verschwand. „Geisterstimmen“ nennen die Spanier seither diese zehn Stimmen.

Was geschehen ist, wäre nichts weiter als eine Anekdote, wären die Konservativen und Basken und Katalanen nicht seit Jahren völlig zerstritten. Die einen treten für die Einheit Spaniens ein, die anderen fordern ein Referendum wie in Schottland, um über ihre Zukunft zu entscheiden. Beide Seiten zelebrieren den Konflikt und schüren damit die Emotionen ihres Fußvolks. Bisher traute sich nur Unidos Podemos, den Nationalisten ein Referendum anzubieten. PP, Ciudadanos und Sozialisten stellten sie dafür in die Ecke derer, die „Spanien zerstören wollen“.

„Was jetzt geschehen ist, verdeutlicht die Blockade, die sich die PSOE selbst auferlegt hat und die es unmöglich macht zu paktieren“, heißt es im Leitartikel der größten spanischen Tageszeitung El País. Kurioserweise gehörte das Blatt zu denen, die nach den Wahlen im vergangenen Dezember Druck auf die Sozialisten ausübten, damit sie eben nicht mit Pode­mos und den Na­tio­nalisten eine Regierungs­bildung versuchen. Die Neuwahlen vom Juni wurden dadurch unausweichlich.

„Unter bestimmten Umständen können wir uns sicher verstehen“, feiert der PP-Sprecher Rafael Hernando die Stimmen aus dem nationalistischen Lager. „Unglaublich, in nur 24 Stunden hat die PP ihre Position um 180 Grad gewendet“, erklärt Fer­nan­do Berlin. Der jun­ge Journalist unterhält im Internet das vielgehörte Morgenradio ra­dio­cable.com und nimmt an diversen Talkshows in Funk und Fernsehen teil. Er ist nicht der Einzige, der Spekulationen anstellt, ob die Wahl des Parlamentspräsidiumseinen Schwenk auch bei der Regierungsbildung vorwegnimmt.

Der noch amtierende Ministerpräsident Mariano Rajoy verfügt nur über 137 Abgeordnete. Selbst wenn er die Rechtsliberalen mit ihren 32 Sitzen mit an Bord holt, fehlen ihm sieben Stimmen für die Mehrheit in der 350-köpfigen Volksvertretung. Im zweiten Wahlgang müssten sich entweder sozialistische oder eben nationalistische Abgeordnete enthalten. Bisher galt es als mehr als unwahrscheinlich, dass die Nationalisten dem Konservativen diesen Gefallen tun. Bisher.

„Rajoy wird auch weiterhin die Verfassung und die Einheit Spaniens verteidigen, wie er das seit mehr als 30 Jahren macht“, versucht das Hausblatt der Konservativen, La Razón, unter Direktor Francisco Marhuenda mögliche Sorgen der konservativen Wählerschaft zu zerstreuen. Der spanische Zentralismus ist eines der Markenzeichen der PP. Marhuenda, enger Freund Rajoys, tritt in unzähligen Talkshows als konservativer Einpeitscher auf.

Während sie in den Talkshows weiter analysieren, warum die Nationalisten abstimmten, wie sie abstimmten, liegt für viele Spanier die Antwort auf der Hand: „Es geht ums Geld.“ Denn das neue Parlamentspräsidium wird darüber zu befinden haben, ob die katalanischen Na­tio­nalisten eine eigene Fraktion in der Volksvertretung erhalten. Die Bedingungen der Geschäftsordnung dafür erfüllen sie nur bedingt. „Wenn es einen Ausweg gibt, damit sie eine eigene Fraktion haben, bin ich dafür“, so PP-Sprecher Her­nan­do. Für eine Fraktion gibt es aus dem Staatssäckel 1,4 bis 2 Millionen Euro für die laufende Arbeit und Berater. „Haben oder nicht haben, das ist hier die Frage“, kommentiert die katalanische La Vanguardia.