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Auf dem großen Sprung

TAZ-SERIE OLYMPIAREIF (TEIL 2) Rund 24 Trainingsstunden pro Woche und nebenher noch die Schule mit den Vorbereitungen fürs Abitur. Schon eine Schinderei, der sich die Turnerin Michelle Timm stellt – für ihren Traum, bei den Olympischen Spielen in Rio zu starten

Schwebend im Anflug: die Turnerin Michelle Timm, Olympiaanwärterin des SC Berlin Foto: David Oliveira

von Alina Schwermer

Sie hat diese Eleganz, sagen die Leute, die Michelle Timm beim Turnen zusehen. Ein Geschick, das an etwas Tänzerisches erinnert, wie eine Ballerina auf der Turnmatte. Und Michelle Timm, 18-jährige Olympiaanwärterin des SC Berlin, hat das Selbstbewusstsein, auch selbst zu befinden, dass ein eleganter Turnstil sie auszeichne.

In der Frauenturnhalle im Sportforum – sie hat gerade ein mehrstündiges Training hinter sich – wirkt sie, als wolle sie den filigranen Stil auch optisch unter Beweis stellen: sorgfältig geschminkt, glitzernde Ohrstecker, die langen Fingernägel rosa lackiert und mit silbernem Glimmer gestylt. Man fragt sich für einen Moment, ob sie mit den Nägeln eigentlich turnen kann, aber ganz offensichtlich kann sie.

Ist elegante Leichtigkeit eine Konstante in ihrem Leben? Michelle Timm lacht. „Nee, überhaupt nicht. Ich habe früher immer Schimpfe gekriegt, weil ich eine so schlechte Haltung hatte. Ich war ein kleiner Trampel.“ Die Körperbeherrschung habe sie durch den Sport gelernt.

Nimmt man die reinen Fakten, liest sich die Karriere des Turntalents Michelle Timm wie eine fast zwangsläufige Entwicklung. Im zarten Alter von zwei Jahren zum Ballett, wenig später zum Wasserturmspringen. Auch da geht es um Körperbeherrschung, und auch da wollte man sie für eine Karriere im Leistungssport anwerben. Parallel Leistungsturnen, dann Sportschule, und jetzt, mit 18, die erste Olympia-Teilnahme im Visier.

Michelle Timm und das Tur­nen in Rio

Tur­nen: Ist schon seit 1896 – gleich bei der ersten Ausgabe – bei den Olym­pi­schen Spie­len ver­tre­ten. Bei Damen und Her­ren gibt es je­weils Ein­zel- und Mann­schafts­wett­be­wer­be. Die Sport­ler tre­ten in ver­schie­de­nen Dis­zi­pli­nen wie Bo­den­tur­nen und an den di­ver­sen Ge­rä­ten an.

Mas­kott­chen: „Ich habe einen klei­nen Schutz­en­gel, den mir eine frü­he­re Trai­ne­rin ge­schenkt hat“, sagt Mi­chel­le Timm. „Den nehme ich seit­dem zu jedem Wett­kampf mit.“

Mo­ti­va­ti­on: „Musik. Ich habe kein be­stimm­tes Lied, aber Musik hilft mir all­ge­mein, mich vor dem Wett­kampf zu fo­kus­sie­ren.“

Spielplan: Am Diens­tag, 9. Au­gust, steigt um 21 Uhr das Mann­schafts­fi­na­le der Turn-Frau­en. Das Fi­na­le der Her­ren läuft einen Tag vor­her eben­falls um 21 Uhr. Die Vor­run­de im Tur­nen ist am 6. und 7. Au­gust. (asc)

In Timms Erinnerung aber ist an ihrer Geschichte nicht vieles zwangsläufig. In der Welt der Turner, in der viele Talente aus großen Sportlerfamilien kommen, ist die 18-jährige Berlinerin eher eine Exotin. Ihre Familie, „relativ unsportlich und kräftig“, habe mit Turnen nichts am Hut: „Meine Schwester und ich sind die Einzigen, die überhaupt Sport machen“, sagt sie, und dass sich alles so entwickelte, habe sie ihren Eltern zu verdanken. „Die wollten wohl nicht, dass ich dick werde“, sagt sie grinsend. „Und dann war Kinderballett irgendwie naheliegend.“

Auch, als sie sich später fürs Turnen statt fürs Wasserturmspringen entscheidet, fällt die Wahl eher unkonventionell. „Ich bin eine ziemliche Frostbeule“, befindet Timm pragmatisch. „Beim Turmspringen war mir das Wasser zu kalt.“

Die Geschichte vom trampeligen Kind, das sich fast beiläufig zur eleganten Turnprinzessin wandelt, geht gut, bis sie ins Teenageralter kommt. Dann wird es weniger rosarot. „Als ich kleiner war, war noch alles lustig und man hat es aus Spaß gemacht“, sagt Timm. „Aber dann wurde es schon hart.“ Die Berlinerin wirkt reif und abgeklärt, wenn sie über das spricht, was sie investiert. Mit ihren 18 Jahren wäre Michelle Timm in den meisten Sportarten ein Frischling; im Turnen aber steht sie auf dem Leistungszenit, hier gilt sie nicht als Jugendliche.

Nüchtern zählt sie auf, was sie für den Traum, bei Olympia zu starten, gegeben hat: rund 24 Trainingsstunden pro Woche, nebenher Schule, Vorbereitung fürs Abitur. Täglich unterwegs sein von morgens acht bis abends acht Uhr, kaputt nach Hause kommen, Schularbeiten, dann ins Bett fallen, am nächsten Morgen alles von vorn. „Es bleibt keine Zeit, noch irgendwas anderes zu machen“, sagt Michelle Timm. „Andere Hobbys gibt es nicht mehr.“ Sie klingt für einen Moment, als wisse sie, was sie verpasst.

Es lässt sich erahnen, welchen mentalen Spagat sie macht. Im Internet findet sich ein Steckbrief von Timm, der ein bisschen nach Kinderalbum klingt: Da erfährt man, was ihr Lieblingsessen ist (Nudeln und Eier­kuchen), dass sie Lügen doof findet oder dass ihre Freunde sie Michi nennen. Auch dass ihr größter Traum es wäre, bei Olympia zu starten.

„Es bleibt keine Zeit, noch irgendwas anderes zu machen“

Michelle Timm

Die Michelle Timm, die in der Frauenturnhalle sitzt, breitbeinig und mit coolem, selbstbewusstem Blick, und souverän die Antworten parat hat im Gespräch, wirkt, als habe sie wenig zu tun mit diesem Eintrag. Sie ist sich bewusst, wie prägend der Leistungssport für ihr Leben ist. „Ich bin verantwortungsbewusster als die meisten Leute in meinem Alter, man macht sich mehr Kopf um Dinge. Und bei dem Stress, den wir haben, kommen wir nicht dazu, Blödsinn zu machen. Wir sind anderen Jugendlichen voraus.“

Und gleichzeitig irgendwie hinterher: Feiern gehen ist nur selten drin. Freunde, die nicht in der Sportblase sind, sind zunehmend aus dem Blickfeld geraten. Zu ihrem Freundeskreis gehören mittlerweile fast nur noch Leistungssportler: „Die wissen, was für ein Pensum man hat, und verstehen, wenn man sagt: Ich hab jetzt keinen Nerv mehr, was zu unternehmen.“

Zweifel? Doch, die gab es. Als Jugendliche erleidet Michelle Timm viele Verletzungen, Bänderrisse, Bänderdehnungen, einmal fällt sie ein Dreivierteljahr lang wegen einer Sehnenscheidenentzündung aus. „In solchen Momenten hat man das Gefühl, man schindet sich umsonst.“ Trotzdem macht sie weiter: Schmerzen und Schinderei seien eben Alltag beim Turnen, die Liebe zum Sport siegt.

taz-Se­rie „olym­pia­reif“

Nach­dem die Fuß­ball-Eu­ro­pa­meis­ter­schaft ab­ge­hakt ist, schaut man nun auf das nächs­te spor­ti­ve Groß­er­eig­nis in die­sem Som­mer: Vom 5. bis 21. Au­gust fin­den in Rio de Ja­nei­ro die Olym­pi­schen Som­mer­spie­le statt. Viele Ath­le­tin­nen und Ath­le­ten be­rei­ten sich be­reits seit Jah­ren in­ten­siv auf die­sen sport­li­chen Hö­he­punkt ihrer Karr­ie­re vor. Die taz prä­sen­tiert bis zur Er­öff­nung der Spie­le in Bra­si­li­en in ­einer Por­t­rät­se­rie immer ­mon­tags Ber­li­ner Hoff­nungs­­­träger. (taz)

2015 ist Michelle Timm zum ersten Mal bei einer Europameisterschaft dabei, und nun kann sie sich, wenn die letzte Qualifikation klappt, den Traum von Olympia erfüllen. Am Dienstag wird der Kader bekannt gegeben.

Die Turnerin ist dabei realistisch genug zu wissen, dass eine Karriere in ihrer Sportart kurzlebig ist. „Ich will alles andere in meinem Leben mehr absichern als den Sport“, sagt sie – und klingt auch da reif, strukturiert. Nach dem Abitur will sie studieren, am liebsten auf Lehramt, Sport natürlich und vielleicht Deutsch.

Für die große Turnkarriere mit den internationalen Wettbewerben wird da kein Platz mehr sein. Aber das findet sie okay so. „Vielleicht mache ich dann nur noch Bundesliga nebenher. Ich schaue, wie der Sport reinpasst.“ Etwas beweisen muss sie niemandem mehr. Die Erwartungen, die man hatte, als man sie einst zum Kinderballett schickte, hat sie längst meilenweit übertroffen.

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