Brüssel Der Brexit ist keine Katastrophe, sondern ein Weckruf: Die EU muss sich verändern. Jetzt wird die Kommission hart verhandeln
: Reset, bitte

Aus höflichen Bitten werden strenge Forderungen werden. Blumen vor der EU-Botschaft Großbritanniens in Brüssel Foto: Virginia Mayo/ap

Von Eric Bonse

Wochenlang war das Wort Brexit für die EU-Kommission tabu. Wie im Auge des Orkans herrschte in der Hauptstadt der EU eine merkwürdige, angespannte Ruhe. Der Paukenschlag aus Großbritannien tönt in dieser Stille nun besonders laut.

Ein großes Mitgliedsland hat für den EU-Austritt gestimmt. Die an Erweiterung gewohnte Union muss über Nacht das Schrumpfen lernen. Bricht jetzt die EU zusammen? Ist dieses Ergebnis eine historische Kata­strophe?

Eine Katastrophe ist der Brexit nur für jene, die sich an den Status quo klammern. Für die Fans eines neoliberalen, vom deutschen Merkantilismus dominierten Europas. Für alle anderen – und davon gibt es viele – ist der Brexit eine Chance, einen Neustart in eine bessere EU zu wagen.

In Brüssel folgte am Freitag eine Krisensitzung auf die andere. Danach gaben sich die EU-Chefs zerknirscht – und zugeknöpft.

„So schnell wir möglich“ solle London die Entscheidung zum Austritt umsetzen, „wie schmerzhaft dieser Prozess auch sein mag“, erklärten EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, Ratspräsident Donald Tusk und Parlamentspräsident Martin Schulz nach einem hektisch einberufenen Spitzentreffen. Bereits beim EU-Gipfel am kommenden Dienstag will die EU Entscheidungen treffen.

Mit einem einzigen Wort – „nein“ – antwortete Juncker auf die Frage, ob der Brexit der Anfang vom Ende der EU sein könnte. Die Chefs wissen dabei natürlich, dass Rechtspopulisten in anderen Ländern schon für Volksabstimmungen über die Mitgliedschaft werben. Und das gleichzeitig von links gefordert wird, die EU nun neu zu gründen.

„Wir brauchen eine neue Vision und einen Neustart für das vereinigte Europa“, sagte der griechische Regierungschef Alexis Tsipras am Freitag. Das Ziel sei ein sozial gerechtes und demokratisches Europa.

Ähnlich äußerten sich linke, grüne und sozialdemokratische Abgeordnete im Europaparlament. Der SPD-Politiker Jo Leinen brachte einen EU-Konvent ins Gespräch. Nach Frieden und Freiheit müsse die EU künftig mehr Sicherheit für die Menschen in Europa organisieren – soziale Sicherheit wie auch Sicherheit vor Kriminalität und unfairem Handel in der Welt.

Doch auf neue Ideen und Initiativen sind die EU-Chefs nicht vorbereitet. Sie haben sich vom britischen Noch-Premier Cameron einschüchtern lassen, der die Europäer zum Schweigen aufgefordert hatte. Und sie haben ihm blind vertraut, dass er die Mehrheit der Briten hinter sich bringen würde. Das rächt sich nun. Es gibt keinen Plan B – weder im Guten noch im Schlechten.

Soll Großbritannien ein Norwegen werden, eine Schweiz oder eine Ukraine?

Und so werden nun erst einmal die Routiniers der euro­päi­schen Realpolitik das Ruder an sich reißen. Kanzlerin Angela Merkel in Berlin, Präsident François Hollande in Paris und vielleicht auch die Regierungschefs in Warschau und Rom werden versuchen, Geschlossenheit zu zeigen und den Schaden zu begrenzen.

Beim EU-Gipfel in der kommenden Woche geht es dabei zunächst darum, den wohl kaum noch vermeidbaren Brexit in geregelte Bahnen zu lenken. Cameron muss dazu einen formgerechten Austrittsantrag stellen. Danach bleiben zwei Jahre Zeit, um die Modalitäten auszuhandeln.

Das klingt technisch und bürokratisch, birgt aber politischen Sprengstoff. Denn einige, wie Präsident Hollande oder Kommissionschef Juncker, wollen mit Großbritannien nun knallhart verhandeln, um mögliche Nachahmer abzuschrecken. „Einen Deserteur empfängt man nicht mit offenen Armen“, so Juncker. Andere, allen voran Merkel, wollen die Briten vorsichtiger behandeln, da sie sie weiter als Handelspartner und Verbündete brauchen. Auch Polen und Ungarn hängen an Cameron. Wenn sie ihm oder seinem Nachfolger zu viele Zugeständnisse machen, könnte dies fatale Folgen haben. Es wäre eine Einladung zum Rosinenpicken und zum Rückbau der EU.

Der britische Wahlverlierer weiß das – und spielt auf Zeit. „Es gibt keine Notwendigkeit zu einem genauen Zeitplan“, sagte Cameron am Freitag. Die Verhandlungen mit Brüssel solle sein Amtsnachfolger führen, der im Oktober gekürt werden könnte.

Wenn er bei dieser Trotzhaltung bleibt, könnte es Streit geben beim Gipfel. Denn bis Oktober wollen sich die EU-Chefs auf keinen Fall vertrösten lassen. Ärger droht auch wegen der Frage, welche Beziehungen Brüssel künftig zu London unterhalten soll.

Soll man Großbritannien wie Norwegen behandeln – mit Zugang zum Binnenmarkt, aber auch EU-Beiträgen und Freizügigkeit für EU-Arbeitnehmer? Oder soll UK eine große Schweiz werden – mit Dutzenden von bilateralen Verträgen, die den gemeinsamen Handel regeln? Wird das Land womöglich auf das Niveau der Ukraine herabgestuft – mit einem einfachen Assoziierungsvertrag?

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat angeblich bereits einen entsprechenden Geheimplan entwickelt. Auch der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok brachte in Berlin das „Modell Ukraine“ ins Gespräch. Es kann sich aber auch um taktische Manöver handeln, um die Briten zum Einlenken zu bewegen.

Streit droht auch über die Frage, welche Lehren die EU aus ihrer Niederlage ziehen soll. Das Referendum sei ein Wake-up-Call gewesen, ein Weiter-so dürfe es nicht geben, hieß es am Freitag unisono in Brüssel. Doch bisher fällt die Antwort auf das britische Misstrauensvotum ziemlich mager aus.

„Wir brauchen einen Neustart für das vereinigte Europa“

Alexis Tsipras, Griechischer PRemier

Mehr Geld für die Rüstung, mehr innere Sicherheit, mehr Grenzschutz zur Abwehr mittlerweile überall unerwünschter Flüchtlinge – das liegt auf dem Verhandlungstisch für den EU-Gipfel. Von mehr Demokratie, mehr sozialer Sicherheit und mehr Transparenz ist hingegen kaum die Rede.

Auch das „Kerneuropa“, das Schäuble in den neunziger Jahren angestrebt hatte, ist kein Thema mehr. Dabei böte sich nach dem Austritt Groß­britanniens durchaus die Chance, einen neuen, harten Kern um Deutschland und Frankreich zu bilden. Auch Polen könnte dabei sein, wenn es denn wollte.

Wenn man es richtig anpackt, enthält der Brexit auch die Chance auf einen Neubeginn. Es ist wohl die letzte Chance vor den Wahlen in Frankreich und Deutschland 2017. Die Strategie der EU-Granden läuft jedoch darauf hinaus, vor diesen Wahlen keine neuen Baustellen aufzumachen und keine großen Reformen zu wagen.

Vor allem Merkel käme dies sehr gelegen. Denn für sie lief ja bisher alles bestens in Europa – bis zu diesem bedauerlichen Betriebsunfall in Britannien.