Pack das bloß wieder weg!

Quatsch Taktikstreber zählen neuerdings Steilpässe und nennen es Packing. Die ARD macht Werbung für den heißesten Scheiß der Videoanalyse. Was taugt die Statistik?

Packt viele Gegner: Mario Götze Foto: Sebastian Wells

VON Gareth Joswig

Taktik-Analysten haben ein neues Quatschwort: „Packing“. Damit ist weder Kofferpacken gemeint, weil man es vor böllernden Party-Patrioten zu Hause nicht mehr aushält, noch das Löw’sche Anpacken der Klöten und das anschließende Schnüffeln an der Hand. Packing, das bezeichnet im Fußball-Klugscheißer-Sprech das, was Günter Netzer laut Mythos schon 1972 gemacht hat, nämlich aus „der Tiefe des Raumes“ kommen. Oder wie es Normalsterbliche nennen: Steilpass.

Nach der falschen Neun, der abkippenden Sechs und der verklausulierten Drölf ist das Packing die neueste Stilblüte der Fußballanalyse. Mehmet Scholl und Matthias Opdenhövel, das Expertenduo der ARD, freuten sich in der Nachberichterstattung des 2:0-Sieges der Deutschen gegen die Ukraine über die neue Statistik wie kleine Kinder an Weihnachten: Exfußballprofi Stefan Reinartz durfte seine selbstausgedachte Fantasie-Statistik einem Millionen-Publikum präsentieren. Dass er zusammen mit dem Hertha-Profi Jens Hegeler eine Statistik-Firma mit dem passenden Namen „Impect“ betreibt, die diese Daten für Geld an Vereine wie Dosenbrause Leipzig, Borussia Dortmund, Borussia Mönchengladbach und den DFB verkauft, erwähnten sie nicht.

Es war eine öffentlich-rechtlich finanzierte Gratisverkaufsshow für Dinge, die kein Zuschauer braucht. Verteidiger überspielen, das nenne man jetzt „packing“, behauptete Rei­nartz. Die neue Technik der Spielbetrachtung könne die Fußballanalyse für immer verändern, waren sich die ARD-Experten einig.

Und das Beste daran ist: Man kann es zählen. Wirklich. Wie viele Gegenspieler wurden per Steilpass überspielt? Wie viele Verteidiger? Wurde auch Zeit: Nach Toren, Vorlagen, Ballkontakten, Pässen, Torschüssen, Freistößen, Abseits, Ecken, Anstößen, verkauften Bieren, gestellten Beinen und Einwürfen zählt man nun im Fußball endlich auch die überspielten Gegner.

Gezählt wird alles, was überlupft wird. Eine Passflanke von Boateng, die an der Eckfahne landet: Acht Ukrainer leiden unter Packing. Neuer schlägt einen Ball nach vorne, Götze kommt zufällig dran: zehn Gegenspieler gepacked (sprich: gepäggt). Özil spielt eine Traumflanke zum Tor auf Bastian Schweinsteiger: Nur zwei Ukrainer gepäggt. Nun ja.

Die ARD ist jedoch begeistert: „Das bestätigt ein Gefühl“, sagte Mehmet Scholl. Endlich könne man in Zahlen fassen, wie tief der Pass wirklich war. Und zusammen zählen die ARD-Experten jetzt regelmäßig am Flachbildschirm im TV-Studio: Toni Kroos will einen Ball nach vorne bolzen, holt aus, Standbild. Die komplette ukrainische Mannschaft vor ihm. Bewegtbild. Der Ball fliegt im hohen Bogen über alle Köpfe hinweg zu Sami Khedira, ein schöner Pass. Oder wie man heute sagt: neun Spieler gepackt (sprich: gepäggt), davon vier Verteidiger. Breaking News: Toni Kroos spielt gute Pässe. Toll.

Was für eine langfristige Taktikanalyse vielleicht sinnvoll erscheinen mag, ist im Einzelfall für den TV-Nachbericht nur bedingt aussagekräftig. Oder ist der Kevin-de-Bruyne-Traumpass, der nur einen Verteidiger aus dem Spiel nimmt, aber fast zum Ausgleich gegen Italien führte, weniger wert als ein diagonaler Flankenwechsel, der fünf Gegenspieler überspielt, bei dem aber nach der Ballannahme nur ein Einwurf herauskommt?

„Das bestätigt ein Gefühl“

Mehmet Scholl

Wofür die neue Passstatistik taugen könnte, ist die langfristige Analyse der erfolgreichen Risikopässe. Lästiges Quergeschiebe der Innenverteidiger taucht tatsächlich nicht auf. Und neben Mesut Özil, der ohnehin der Rekordvorlagengeber der Premier-League-Geschichte ist, dürften sich einzelne Spieler durch die neuen Zahlen als fähig herausschälen, riskante Bälle zu spielen. Ein Durchschnittswert über einen längeren Zeitraum ist aber höchstens für Scouts, Manager, Trainer und eben Taktikfans halbwegs interessant.

Dennoch wird die „Sportschau“ das „neue Analysetool“ während der EM weiter einsetzen. Scholl sagte gar: „Der Parameter [. . .] hat als einziger eine wirkliche Aussagekraft über den Ausgang des Spiels.“ Umso witziger, dass die „Sportschau“ auf ihrer Webseite auch schreibt: „Die Daten von Stefan Reinartz und seinen Mitstreitern bekräftigen viele Eindrücke, die niemanden überraschen.“

Denn eigentlich beschreibt der Wert nur das bekannte Prinzip des steilen Passes. Er ist das täglich Brot eines offensiven Mittelfeldspielers. Ermöglicht wird der Steilpass durch spiegelneuronale Empathie, also die Fähigkeit, Bewegung zu antizipieren. Eine Sache, die man nicht erlernen kann. Dafür gibt es bereits schöne Begriffe: Talent und Spielverständnis. Ein solches Zuspiel heißt Traumpass oder eben einfach Steilpass. Um ein schönes Exemplar davon in freier Wildbahn zu erkennen, braucht es nicht viel. Und schon gar keine neue Statistik. Die Schönheit des Spiels ist nicht messbar.