: Hinterm Deich
Ortstermin Rund 300 Quadratkilometer von Schleswig-Holstein liegen unterhalb des Meeresniveaus. Ein Besuch in Friedrichskoog
von Esther GEISSLINGER
Es ist noch zu ahnen, das Meer, das hier früher war. Der Blick geht weit darüber hinweg, über gerade Felder, durchzogen von geraden Wegen. Am Ende stoppt ein grader grüner Strich den Blick – das ist der Deich von Friedrichskoog. Er schirmt das künstliche Land, den Koog, gegen die See ab. Es lebt sich friedlich hinter einem Deich, besonders an so einem sonnigen Tag, wenn in den Bauerngärten links und rechts der geraden Straßen die Blumen im leichten Wind schwanken, auf den geraden Feldern der Kohl sprießt und der Deich mit Schafen getüpfelt ist. Aber der Friede täuscht, die durch den blauen Himmel spiralenden Schwalben lügen: In Wahrheit verläuft hier die Front im alten Krieg Mensch gegen Meer.
Das Land Schleswig-Holstein führt den Kampf mit Sand und Geld. Zehn Millionen Euro für Entwässerungsbauwerke, zehn Millionen für den Erhalt der 431 Kilometer Landesdeiche plus eine halbe Million Zuschuss für Regionaldeiche kostet es, sich den Blanken Hans vom Leib zu halten – Jahr für Jahr. Zusätzlich zum reinen Erhalt investiert die Regierung Millionen in die Verstärkung der Deiche. Ein „Generalplan Küstenschutz“ von 2008 listet gut 20 Einzelmaßnahmen auf, deren Kosten sich auf Hunderte Millionen Euro addieren. Allein die Sandaufspülungen für Sylt und Föhr kosteten über mehrere Jahre 120 Millionen Euro, dafür wurden knapp 30 Millionen Kubikmeter Sand von einem Ort zum anderen bewegt.
Und das Meer macht, was es immer macht, es rollt und wogt, es spielt und spült, es braust und rauscht, es ebbt und flutet, es nimmt Sand und bringt Sand.
Friedrichskoog gehört zu den Stellen an der Küste, denen das Meer Sand bringt. Ist es einfach geografisches Pech oder liegt es – wie einige Friedrichskooger vermuten – am Schlick aus dem Hamburger Hafen, der in ein Loch im Meer nicht weit weg gekippt wird und damit die Strömungen verändert? Warum auch immer, aber die Zufahrt zum Hafen, der Mittelpunkt des Ortes, versandete im Lauf der Jahre. Trotz der wütenden Proteste der Einheimischen, der Fischerfamilien, der Ferienwohnungsbesitzer, beendete die Landesregierung den Betrieb im landeseigenen Hafen, das Sperrwerk zum Meer bleibt geschlossen. Vergebens ruft ein Graffito an der Betonwand zum Widerstand gegen die Politiker in Kiel auf: Das ummauerte Becken im Zentrum des Ortes ist nur noch so etwas wie ein großer Pool mit grauem Wasser, auf dem Sportboote kreisen. Immerhin das Segelschiff verbreitet Optimismus.
In „Alice’ Restaurant“ am Rand des Hafenbeckens gibt es Fisch aus der Region, sogar Krabben von Friedrichskooger Fischern: „Die fahren jetzt von Büsum aus“, sagt die Frau hinter der Theke. Die meisten Fischer hatten ihre Boote bereits vor längerer Zeit verlegt, die letzten gingen vor einem Jahr. Im Bekanntmachungskasten mit „Informationen für Seefahrer“ gilbt der amtliche Zettel, der alle Schiffseigner auf die Schließung hinweist und dringend empfiehlt, die Schiffe wegzuschaffen, bevor sie im Ex-Hafen gefangen sind.
Heute zeigt der Blick vom Deich die Fahrrinne zwischen Sperrwerk und der eigentlichen Küstenlinie als schmales Flüsschen im Wattgrund. Denn hinter dem Deich geht das Land weiter – als unbefestigte Salzwiesen, auf denen sich die Flut austoben kann, bevor sie auf den künstlichen Hügelkamm trifft.
Schaffte es die See, den Deich zu brechen, stünde das flache Land dahinter schnell unter Wasser. Die Dächer von Friedrichskoog ragen kaum an den Deich heran, teilweise liegt das Erdgeschoss der Häuser unter dem Meeresniveau.
Rund 300 Quadratkilometer Fläche an der Westküste Schleswig-Holsteins befinden sich unter „Normalnull“, also dem durchschnittlichen Meeresspiegel, teilte die damalige Landesregierung im Jahr 2009 mit. Inzwischen wurde die Berechnungsgrundlage geändert, es gilt der internationale Standard „Normalhöhennull“, der nicht mehr allein den Meeresspiegel zum Vergleich nimmt.
Vom Hafen, der keiner mehr ist, geht es zurück durch den Koog, der früher Meer war. Der Blick geht weit über die gerade Landschaft. Sie endet am Horizont in einer sanften, grünen Hügelkette: der Geestrücken, der sich aus der Marsch erhebt, festes Land, sicher vor dem Zugriff der See.
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