Aufstand gegen Pinochets Vermächtnis

Chile I Seit Anfang Juni streiken erneut SchülerInnen und Studierende für gleiche Bildungschancen und ein kostenloses Studium. Die Hochschulreform, die Präsidentin Bachelet ins Parlament bringen will, geht ihnen nicht weit genug

Arm, aber sexy: Viele Chilenen müssen sich für das Studium verschulden. Vor dem Präsidentenpalast in Santiago fordern sie kostenlose Bildung Foto: Esteban Felix/reuters

von Jürgen Vogt

Chiles SchülerInnen und Studierende sind im Ausstand. Seit Anfang Juni sind landesweit über 150 Schulen, Hochschulen und Universitäten besetzt oder werden bestreikt – unbefristet. Vergangenen Donnerstag waren wieder 150.000 SchülerInnen, Studierende und Lehrende protestierend zum Präsidentenpalast La Moneda in der Hauptstadt Santiago gezogen. Die zentrale Forderung: „Educación pública, gratuita y de calidad – Öffentliche Bildung, gratis und mit Qualität“.

Am Freitag fand dann das mit Spannung erwartete Treffen von Bildungsministerin Adriana Delpiano und VertreterInnen der Studierenden statt. Erstmals seit drei Monaten waren die Studis von Regierungsseite empfangen worden. Vorgestellt wurde das Reformvorhaben für die Hochschulausbildung, das die Regierung von Präsidentin Michelle Bachelet als Gesetzesvorlage Ende des Monats im Kongress einbringen will. Im Januar 2015 hatte der Kongress die Reformen im Schulbereich und beim kostenlosen Zugang zu Bildungseinrichtungen für einkommensschwache Familien beschlossen. Die Forderung nach einem allgemeinen und kostenlosen Schul- und Unibesuch wurde nicht umgesetzt.

Skepsis gegen Reform

„Uns interessiert vor allem, wie das Studium an den Hochschulen und Universitäten zukünftig finanziert werden soll, ob und wie die Profite der privaten Bildungseinrichtungen weiter legitimiert werden. Ob die Reform die Verschuldung der Familien für die Bildung berücksichtigt und ob Mechanismen für die demokratische Beteiligung der Studierenden vorgesehen sind“, sagte vor dem Treffen Gabriel Iturra, der Sprecher des chilenischen Studierendenverbands Confech. Die Studienkredite sorgen in Chile seit Längerem für Unmut: Rund 40.000 US-Dollar Schulden häuft ein Student während seines Studiums an (siehe Text unten).

Ausgeschlossen von dem Treffen mit der Ministerin blieben die SchülerInnen. Die hatten vergeblich auf eine Einladung gewartet. „Die Regierung glaubt, die Schülerbewegung stecke noch in den Windeln, dagegen werden wir mit jedem Tag stärker“, sagte Diego Arraño, Sprecher der SchülerInnenvereinigung Aces. Das Misstrauen sitzt auch hier tief: „Die Regierung will lediglich ihr Image schönfärben, während sie alles hinter verschlossenen Türen auskungelt“, so Arraño.

Seit Jahren erlebt Chile massive Proteste von SchülerInnen und StudentInnen, die ein kostenloses und staatliches Bildungssystem fordern. Anfang der 1980er Jahre wurden private Bildungseinrichtungen zugelassen, die nach und nach die öffentlichen Einrichtungen verdrängten. Schulen und Hochschulen waren jetzt gewinnorientierte Unternehmen, ihr Besuch musste bezahlt werden. Die neoliberale Politik während der Pinochet-Diktatur von 1973 bis 1990 und in den Folgejahren hat die Mentalität der Bevölkerung tief geprägt. Alles ist Ware und hat seinen Preis. Schule, Universität, Ausbildung machen da keine Ausnahme.

Bildung gilt vielen ChilenInnen wie selbstverständlich als private Angelegenheit. Demnach muss sich der Einzelne oder seine Familie um die Finanzierung kümmern. Wenn die Studierenden gegen diese Einstellung protestieren und ein staatlich finanziertes kostenloses Bildungssystem fordern, dann lehnen sie sich auch gegen dieses verinnerlichte neoliberale Wertesystem auf.

Deshalb wehren sich vor allem Eigentümer privater Bildungsstätten und Finanzdienstleister, die Kredite für das Studium bereitstellen, gegen jegliche Reform. Während sie um ihr Geschäft fürchten, fürchtet die Oberklasse um die privilegierte Luxus-Förderung ihrer Zöglinge. Bildungsprotest in Chile ist mehr als das Einfordern einer guten Ausbildung.

Und mit Protesten kennt sich die sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet seit ihrer ersten Amtszeit (2006–2010) zur Genüge aus. Vor genau zehn Jahren gingen die SchülerInnen massenhaft auf die Straßen, besetzten ihre Schulen und riefen die ‚Revolución pingüina‘ aus. Wochenlang streikten die Pinguine, wie die SchülerInnen wegen ihrer schwarz-weißen Uniform genannt werden. Zu Hunderten wurden sie bei ihren Demonstrationen von der Polizei vorübergehend festgenommen. Die Eltern standen vor den Kommissariaten Schlange, um ihre Töchter und Söhne abzuholen.

Eine der zentralen Forderungen war die Einführung des Pase Escolar Gratuito, des Schülertickets für die kostenlose Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs. Was selbstverständlich klingt, ringt einer Gesellschaft, die vom neoliberalen Gedankengut geradezu durchtränkt ist, einen enormen Kampf ab. Heute gehört das Gratis-Schüler-Ticket zum Schulalltag und die kampferfahrenen Pinguine sind heute nicht nur zehn Jahre älter, viele von ihnen studieren an den Universitäten.

Seit Pinochet gilt Bildung als Privat­sache. Expräsident Piñera sagt: Bildung ist ein Konsumgut

Der rechtskonservative Amtsnachfolger Sebastián Piñera (2010–2014) gab sich zwar reformwillig, machte aber klar, dass er an strukturellen Bedingungen nichts ändern werde. Als die SchülerInnen und Studierenden 2011 abermals massiv auf die Straße gingen, fiel bei Piñera die Maske: „Bildung ist ein Konsumgut“, so der Präsident.

Ihr Comeback im Präsidentenamt verdankt Michelle Bachelet auch den Stimmen der Lernenden. Denen hatte sie im Wahlkampf versprochen, das staatliche und kostenlose Bildungsangebot wieder auszubauen. Dass dies ohne Druck nicht passieren würde, wussten die ehemaligen Pinguine und mobilisieren auch nach Bachelets Amtsantritt im März 2014 ohne Unterbrechung weiter.

Auch die Power-Point-Präsentation der Bildungsministerin am vergangenen Freitag überzeugte die Studierenden nicht. Bereits vor den Treffen hatte Adriana Delpiano durchblicken lassen, dass es vor allem um die Neuregelung der Zuständigkeit der staatlichen Behörden ginge und dass die Ausweitung des Gratisstudiums an die wirtschaftliche Entwicklung angedockt werden soll. „Viel Allgemeines und wenig Konkretes“, so das nüchterne Fazit von Confech-Sprecherin Camila Rojas. Über die Details des Reformgesetzes sei nichts bekanntgegeben worden.

Für kommende Woche kündigten die Studierenden ihren nächsten großen Protestmarsch an.