: Eine Spitze wie ein Pfannkuchen
ARCHITEKTUR In „Sagrada“ dokumentiert Stefan Haupt die Arbeiten auf Barcelonas berühmtester Baustelle – der Sagrada Familia. Leider bleibt er oberflächlich und folgt unhinterfragt der nationalen Inszenierung
VON GASTON KIRSCHE
Seit 130 Jahren wird an ihm gebaut, dem „Temple Expiatori de la Sagrada Familia“. Die Arbeiten an der Sühnekirche der Heiligen Familie, so der deutsche Name, erstrecken sich über die Grundfläche eines ganzen Häuserblocks. Am 19. März 1882 wurde der Grundstein gelegt. Die Fertigstellung der Sagrada Familia steht in den Sternen. Der Regisseur Stefan Haupt hat die Erlaubnis erhalten, überall auf der riesigen Baustelle zu filmen. Die Kameramänner Patrick Lindenmaier und Antonio Pérez Molero waren beim Schweißen dabei, beim Einpassen tonnenschwerer Stahlgeflechte, die mithilfe von riesigen Kränen und Muskelkraft punktgenau eingebaut werden.
So interessant es ist, durch die Kamera dabei sein zu können, wie in schwindelerregender Höhe der Betonguss für die Kathedralentürme vorbereitet wird, wie dem Beton heller, sandfarbener Naturstein vorgesetzt wird, so schade ist es, dass die Kamera die BauarbeiterInnen nur rein äußerlich zeigt. Sie bleiben stimmlos, bis auf einen, der interviewt wird: Der Vorarbeiter Jaume Torreguitart schätzt, dass er noch erleben wird, wie der letzte Stein gesetzt werden wird. Ansonsten werden viele in als kreativ geltenden Berufen Tätige interviewt: Zwei Bildhauer, ein Glasmaler, ein Modellbauer, drei Architekten aus dem Sagrada-Team. Jordi Bonet, derzeitiger leitender Architekt, schätzt, dass die Kräne noch bis 2026 die Türme überragen werden.
Die Spitzen der Türme sind weltberühmt und zieren zahlreiche Plakate des katalanischen Tourismusministeriums, die für Urlaub in Barcelona werben, ebenso etliche Architekturbücher. Goldene Kugeln scheinen auf einer schuppigen, gekrümmten Reptilienhaut – den Dachschindeln – zu sitzen, ganz oben keine klassische Turmspitze: Es glänzt etwas rundes, das an einen überdimensionalen Pfannkuchen oder eine fantastische Knospe erinnert.
Alles sehr anders als der erdrückende, herrschaftliche neugotische Stil, in dem die Sagrada Familia vor 1882 im Auftrag eines katholischen Ordens vom damaligen zuständigen Diözesenarchitekt ursprünglich konzipiert wurde. Nur die Krypta ist neugotisch gebaut. Es ist der einzige Teil, in dem Gottesdienste abgehalten werden. Und in dem sich ein Mensch niedergedrückt fühlen kann, demütig sein soll, klein vor Gottes großartiger Schöpfung und ebenso großartiger Kirche. Schon direkt über der Krypta liegt überall Bauwerkzeug, wird Beton angemischt, Stahl geflochten. Von Menschenhand erdacht, atemberaubend gewagt konstruiert, unkonventionell statisch durchgerechnet, handwerklich gekonnt ausgeführt. Absolut faszinierend, wie auf der Basis einer Stahlbetonkonstruktion so lebendig erscheinende, an die Natur angelehnte Formen entstehen. Die Initiative hierfür ging von einem jungen Architekten aus, der den zuständigen Diözesenarchitekt bald ablöste. Dieser leitete die Bauarbeiten nur ein Jahr, bis zur Errichtung der Kryptenkapitelle. Zum Glück gab es Streit, so dass am 3. November 1883 der junge Architekt Antoni Gaudí zum neuen Bauleiter ernannt wurde.
Gaudi hat einen ganz eigenen Baustil erfunden, den katalanischen Modernismus. Viele fühlen sich an den Jugendstil erinnert. Einmalig an der Formensprache von Gaudi ist seine Orientierung an der Natur. Warum etwas neu erfinden, was es schon gibt, was sich bewährt hat, so lautete die Devise von Gaudi, erklärt der Architekturprofessor Joan Bassegoda i Nonell im Film. Dem Regisseur Stefan Haupt ist es gelungen, intellektuell brillante GesprächspartnerInnen vor die Kamera zu bekommen. Auch Raimon Panikkar, Professor für Religionsphilosophie, der die Religiösität Gaudis nahezu befreiungstheologisch, freigeistig erklärt. Entwaffnend charmant entwickelt er die These, das Mysterium der Schöpfung sei seine Leere. Es würde nichts enthalten, ein Genie könnte alles hineinlegen. Wie nahezu alle Interviewten betont er die große Bedeutung von Gaudi. Gaudi ist nicht nur der stilbildende Baumeister der Sagrada Familia, an dessen Vorgaben sich bis heute versucht wird zu halten. Er ist auch ein Vorzeige-Katalane. Kaum jemand im Film spricht Spanisch – außer die Bauarbeiter unter sich und der eingewanderte japanische Bildhauer Etsuro Sotoo. So hören wir in dem als Originalfasung mit Untertiteln laufenden Film meist das weichere Katalanisch.
Hier folgt der Film unhinterfragt der nationalen Inszenierung, mit welcher die bürgerliche Elite Kataloniens die Einzigartigkeit eines Volkes von KatalanInnen behauptet. Ärgerlich hierbei, dass der politische Hintergrund des Sezessionismus vom Spanien nur kurz gestreift wird.
Im Kommentar wird kurz angedeutet, dass unter der Franco-Diktatur die katalanische Sprache verboten war. Unerklärt bleibt auch, warum nach dem Putsch von General Franco im Juli 1936 die sich dagegen auflehnenden sozialrevolutionären Arbeitermilizen gegen die Kirche vorgegangen sind, warum viele Kirchengebäude zerstört wurden – so auch die Baustelle der Sagrada Familia und vor allem, Gaudis Konstruktionsbüro voller Pläne und Modelle. Der katholische Klerus hat in Spanien jahrhundertelang an der Unterdrückung und Verelendung der Bauern und Arbeiter mitgewirkt, diese legitimiert und von ihr profitiert. Der sich dadurch aufgestaute Hass entlud sich – tragischerweise auch gegen die Sagrada Familia und die Pläne von Gaudi, die sich doch radikal vom repressiven Hochklerus abgewandt hatten. Bereits zehn Jahre zuvor war Gaudi selbst Opfer der Benachteiligung der Armen geworden: Auf dem Weg von einer Kirche auf seine Baustelle überfuhr ihn eine Straßenbahn. Weil er so ärmlich wie ein Bettler gekleidet war, wurde er für einen solchen gehalten und in das Armenhospital eingeliefert. Wo er drei Tage entsprechend schlecht versorgt wurde. Gaudi starb, weil er für einen Bettler gehalten wurde.
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