Die einen feiern, die anderen halten Wache: Amüsiert euch
Elise Graton
Dass die Eröffnungszeremonie der Fußball-Europameisterschaft eine eher grenzwertige Angelegenheit werden würde, liegt in der Natur der Sache. Am Freitagabend wird meine Annahme aber noch bei Weitem übertroffen: Bunt gekleidete Damen stürmen auf das Fußballfeld und werfen zum French Cancan die Beine in die Höhe. Umschwirrt werden sie von Lolli lutschenden Mädchen im rosa Plüschkostüm, während andere als riesige Schmollmünder mit knallroten Lippen verkleidet dem Publikum Luftküsse zuwerfen. Ich bin bestürzt.
„Nimm’s nicht persönlich“, sagt P. „Das ist nicht Frankreich, das ist Europa.“ Das ist schlimm, wimmere ich in mich hinein, während P. mir zum Abschied winkt. Ich sitze also allein vor dem Fernseher und werde Zeuge, wie Star-DJ David Guetta unter einem Eiffel-Turm-Banner am Mischpult auf den Play-Knopf drückt und das Stadion mit Eurotrash beschallt. Ich schalte auf stumm und mache mir erst mal ein paar Crêpes. Zur zweiten Halbzeit verlasse ich die Wohnung.
Um die Ecke gibt es ein kleines Public-Viewing unter freiem Himmel. Eine überschaubare Menge hat sich dort versammelt, etwa 50 Leute. Die Stimmung ist fröhlich. An der winzigen Bartheke bestelle ich ein Bier. Just in dem Moment schießt Frankreich das erste Tor. „Fan-tas-tiii-kö“, äfft direkt neben mir ein junger Blondling wie ein Papagei die französische Sprache nach. „Oh, là, là“ muss er garantiert 50-mal während der Eröffnungszeremonie gegackert haben. In sicherer Entfernung sichte ich einen freien Stuhl in der vorletzten von fünf Reihen. Der Fernseher, der im Baum hängt, ist sehr klein, man erkennt kaum etwas. Rechts von mir tragen alle Brille, schon sonderbar.
Foul! Strafstoß für Rumänien! Das Publikum jubelt. „Schadenfrrreude, Schadenfrrreude“, üben hinter mir ein paar Engländer ihr neu erlerntes Deutschvokabular. Der rumänische Spieler Bogdan Stancu bringt sich in Stellung. Die Spannung steigt. „Psscht, Ceauşescu ist dran“, kichert einer vor mir. Tolles Klischee, denke ich mir, und trinke noch einen Schluck Bier. Möglicherweise brauche ich auch eine Brille. Jedenfalls lässt sich für mich auf dem hellgrünen Quadrat im Baum nicht allzu viel über den Spielverlauf ablesen. Stattdessen gehen mir die aktuellen Medienbilder aus Frankreich durch den Kopf: grölende Fußballfans mit bunten Europatrikots und Afroperücken, mehr oder weniger volltrunken in die Kamera schielend. Im Hintergrund immer zugleich ein paar Dutzend schwarz gekleidete Polizisten oder Soldaten, Maschinenpistole im Anschlag.
Während die einen feiern, halten die anderen Wache. Die Stimmungsdiskrepanz ist verstörend, selbst wenn man die begleitenden Streiks, Terrorwarnungen und Gewaltausbrüche unter den Fans nicht ausblenden kann. Für einen Moment stelle ich mir Frankreich als temporäres Zentrum Europas vor – eine Art latent aggressive Spaßgesellschaft, in der rund um die Uhr per Lautsprecher „Amüsiert euch!“ gebrüllt wird und die Menge im Takt „Wir haben Spaß! Wir haben Spaß!“ zurückschreit.
Elise Graton ist freie Journalistin und Übersetzerin in Berlin
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