ESC 26 Länder treten an – und eines wird in der Nacht zum Sonntag triumphieren. Schon wieder Schweden? Oder Russland? Ukraine? Eine Orientierungshilfe: Eurovision!
Aus Stockholm Jan Feddersen
1. Belgien – Laura Tesoro:„What’s The Pressure“. Hat die Funkyness der Siebziger, aber es bleibt ein Fragezeichen im Hinblick auf diesen Act: Sind silbrige Hotpants als Bühnengarde nicht seit Penny McLeans „Silver Convention“ out? Weil sie Schwung in die Halle bringt, ist ihr andererseits nichts übelzunehmen.
2. Tschechien – Gabriela Gunčíková:I Stand. Die Heldin ihres Landes – erstmals ist ihr Land beim ESC-Finale dabei. Aber werden sich die Zuschauer auch nicht an dem sehr langen, pastosen Abendkleid stören? Gnade für eine prima Stimme.
3. Niederlande – Douwe Bob:Slow Down. Junger, bekennend bisexueller Mann mit Neigung zum gepflegten Countrysong. Sozusagen Texas Lightning ohne Kaktus – aber mit schönerem Lächeln. Er hat – unter Zeugen – die vergangenen zwei Wochen in einer holländisch gestylten Stockholmer Kneipe zugebracht. Gutes Mittelfeld!
4. Aserbaidschan – Samra: Miracle. Routinierter Popsong mit flotter Hook von schwedischer Machart, teure Textilien, starke Beinfreiheit dieser von den Kulturoberen ausgesuchten, eher stimmschwachen Dame, auch ohne Abendkleid. Wird vorne landen, das wünschen die Oligarchen in Baku so.
5. Ungarn – Freddie: Pioneer. Der Mann aus dem Land, das keine Flüchtlinge will, vor allem keine muslimischen. Ein netter Titel, den dieser Ungar singt, ohne paprikaeske Allüren, dafür mit einem Flair, das unangenehm an Caffè-Latte-Cafés erinnert.
6. Italien – Francesco Michielin: No Degree of Separation. Schmachtfetzen sondergleichen mit der Aura großer Tragödinnen wie Mina und Mia Martini oder der heiteren Tristesse einer Gigliola Cinquetti. So schön kann Traurigkeit sein! Die Sängerin aus Bassano del Grappa könnte den dritten ESC-Sieg für ihr Land schaffen.
7. Israel – Hovi Star: Made of Stars. Die queerste Performance des Abends, schön und wahr und gut. Pinkwashing? Na wenn schon. Und sowieso egal. Dieser Sänger liebt ewig den ESC, er sagt, was anderen die Hochzeit, das Weihnachtsfest oder Chanukka ist, ist ihm die Eurovision. Jetzt singt er um Ruhm und Glorie.
8. Bulgarien – Poli Genowa:If Love Was A Crime. Schwule Fans mögen ihr Lied – weil sie sich textlich mit dem Titel identifizieren können. Frau mit der höchsten Autogrammnachfrage. Das Lied ist mitreißend und gut. CSD-tauglich von Rovaniemi bis Malaga, Nikosia bis Edinburgh.
9. Schweden – Frans: If I Were Sorry. Der coolste Teenager des Abends, stets angemessen blasiert, wie es sich für Menschen seines Alters geziemt, stets mit Mütze drapiert, die Haare dafür doppelt grifffest eingeschmiert: der Mann, der seine possierliche Heimatstadt Ystad vom Image des Kommissar-Wallander-Mörderhaften entlasten kann.
10. Deutschland – Jamie-Lee:Ghost. Überzeugt das deutsche Farbmodell aus dem Niedersächsischen? Wird Europa sich von der New German Colourness einnehmen lassen? Wird sie schön direkt in die Kameras gucken? Sehr vermutlich. Heimliche Mitfavoritin von echten Experten. Andere sagen: dünn angerührt, freundliche Person – aber sie hat die Bühne nicht zu ihrem Catwalk zu machen verstanden. Letztlich: Top-Ten-Platz.
11. Frankreich – Amir:J’ai cherché. Der sogenannte Frauenschwarm mit freundlichster Frauenanstrahlmiene seit George Clooney vor 20 Jahren. Sein Lied ist ein Mitsummer für den Summer, sehr schöne Performance – auch weil er so aussieht wie ein Abercrombie-&-Fitch-Model in den besten Jahren. In den ESC-Fanclubs war dieser Mann ein Adorationsobjekt sondergleichen – sehr viele würden gern mit ihm schmusen.
12. Polen – Michał Szpak: Colour Of Your Life. Wie sagte man früher: Nichts gegen lange Haare, aber gepflegt müssen sie sein. Daran muss dieser Pole noch arbeiten, aber ansonsten hat er die Sympathien aller, die auf ein männliches Engelsantlitz stehen.
13. Australien – Dami Im: Sound Of Silence. Zum zweiten Mal ist Down Under dabei, und sie, ein Hot Star zwischen Perth und Sydney, wird im Finale mit ihrer modernen Popballade in den höchsten Tönen ein Wörtchen um den Sieg mitzureden haben.
14. Zypern – Minus One: Alter Ego. Man wird nach ihnen einen Flughafen in Nikosia benennen, sagen die Männer der Band, sollten sie für Zypern gewinnen – erstmals. So weit wird es nicht kommen, aber immerhin ist dieses Lied mal eine Alternative zum Schmettervibrato der allermeisten anderen Finalisten. Hinteres Drittel.
15. Serbien – Sanja Vučić: Goodbye (Shelter). Freundlicher Titel einer sehr sympathischen Frau aus Belgrad – nicht so gut wie Marija Serifovic 2007, auch nicht so ästhetisiert als queer icon, aber was heißt das schon: Serbien will gar nicht wieder gewinnen.
16. Litauen – Donny Montell:I’ve Been Waiting For This Night. Ein junger Mann aus Vilnius mit ausgestellt heterosexueller Orientierung war schon mal beim ESC – und will jetzt noch höher hinaus. Recht eigentlich: konventionellster Pop, der aber unter Fernfahrerinnen sehr beliebt ist.
17. Kroatien – Nina Kraljić: Lighthouse. Verdient im Finale – allein schon deshalb, weil ihr schwermütiges Lied ein paar Jugo-Klänge anstimmt. Und weil diese freundliche junge Frau ihrem Land die erste Finalteilnahme seit 2009 ermöglicht. Trickkleid des Abends: Sieht aus wie ausgewalzter Asbest.
18. Russland – Sergej Lasarew:You’re The Only One. Das Sexobjekt des Abends: knuddelig, aber nicht arrogant wirkend. Ein Mann, der die Last der Erwartungen auf sich nimmt. Gewinnt er nicht mit dieser Copy-and-paste-Vorjahresgewinner-Nummer, nimmt man ihn als Loser. Gemein! Aber: Alles andere als ein Sieg dieses Mannes wäre absolut unerwartet.
19. Spanien – Barei:Say Yay! Iberische Tanznummer, der kommende Sommerhit an allen Stränden, vor allem auf Mallorca. Kommt nicht weit nach vorn, aber die Sängerin Barei, die magerste unter allen, hat Qualität genug, ihre hitzige Nummer wenigstens nicht Letzte werden zu lassen.
20. Lettland – Justs:Heartbeat. Sehr smarter, sehr cooler Song aus dem neuen Hotspot der global hipster community, Riga. Aminata, die coolste Elektropopkomponistin zwischen Finnland und Südpolen, war im Vorjahr Sechster im Finale mit „Love Injected“, hat ihn produziert. Hoch gewettet!
21. Ukraine – Jamala:1944. Nein, der ESC ist nicht witzig, nicht mit dieser Sängerin aus Kiew. Es geht um Hunger und Tod und Vertreibung, Deportation und Station. Es ist ihr alles sehr persönlich, autobiografisch. Mit ihr wird der ESC in ihrem Land eine Quote von 90 Prozent bei den Freunden der ukrainischen Autonomie erzielen. Achtung: Bitte die krimtatarischen Passagen beachten, sie verweisen auf die Okkupation dereinst, wahrscheinlich auf die in jüngerer Zeit. Jamala will aufrütteln – werden Sie wach!
22. Malta – Ira Losco:Walk On Water. Schon mal dabei, 2002 in Tallinn – und wurde gleich Zweite. Routinierte Showfrau aus La Valetta, eine Art Helene Fischer ihres Landes. Ihr Song verströmt Discoatmosphäre. Mitfavoritin!
23. Georgien – Young Georgien Lolitaz: Midnight Gold. Das scheppert, das blechelt, das krächzt – und das auf hohem Niveau. Möglich, dass dieses Hardrockding das Dark Horse des Finales ist: Mit ihnen rechnet niemand, so wie 2006 keiner Lordi aus Finnland auf dem Zettel hatte.
24. Österreich – Zoé:Loin d’ici. Sie sieht nur aus wie ein Serviermädchen aus dem Zillertal – aber in Wahrheit ist sie ein karrierebewusstes Ding, das in Wien lebt und besonders punkteheischend in die Kameras gucken kann. Kandidatin für einen Top-Ten-Platz, weil sie ebenso freundlich und gutherzig ist, wie vor zwei Jahren Conchita Wurst es vorlebte.
25. Großbritannien – Joe & Jake: You’re Not Alone. Das soll Britpop sein? Zwei niedliche Cuties, die eine streckenweise maue Nummer zum Besten geben, aber das sehr sympathisch und ganz erfrischend welpenhaft. Kuschelfaktor hoch. Landen ganz weit hinten.
26. Armenien – Iweta Mukutschjan: Love Wave. Hamburgerin, die zum Studium nach Jerewan geschickt wurde – um armenisch zu wirken. Dröhnend vorgetragene Liebeswelle. Leider ist sie am Rande der Disqualifikation: Sie ist hart auf Bergkarabach-Flaggen-Tripp. Ihr Lied ist eine elektrisch falsch gepolte Lärmfönwelle: schwer genießbar.
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