FAMILIE Der brasilianische Sänger und Autor Chico Buarque und sein Roman „Mein deutscher Bruder“: Surreale Suche
von Detlef Diederichsen
Trotz seines auffälligen Namens ist Sergio Günther in der schillernden Historie des DDR-Entertainments eher eine Randerscheinung. Eine regelmäßige Kinokolumne im Rundfunk, ein paar Singles fürs Amiga-Label, gelegentliche TV-Auftritte. Dass Günther nun, 35 Jahre nach seinem Tod, im Interesse der Öffentlichkeit steht, hat er seinem prominenten Halbbruder zu verdanken: dem brasilianischen Sänger, Songschreiber und Schriftsteller Chico Buarque.
Die beiden haben sich nie getroffen. Chico erfuhr von der Existenz eines älteren Halbbruders eher zufällig, als er 22 und schon am Anfang seiner Pop-Karriere war. Dessen Schicksal war in der Familie ein Tabuthema. Er war das Ergebnis einer Affäre von Chicos Vater während eines zweijährigen Aufenthalts in Berlin als Korrespondent einer brasilianischen Tageszeitung Anfang der 1930er Jahre. Die Verhältnisse im Hause Buarque de Holanda waren aber so, dass sich der weltberühmte Sänger nicht traute, seinen Vater, den höchst respektierten Historiker, Literaten und Soziologen, oder seine Mutter, die vor sechs Jahren im Alter von 100 starb, nach der Geschichte zu fragen. Nachforschungen ließ er insgeheim schon anstellen. Sie führten allerdings zunächst nicht zum Ziel.
Zeit der Militärdikatatur
So entschloss er sich, die jahrzehntelange Suche nach seinem Bruder zum Thema seines fünften Romans zu machen. Doch wer sich Einblicke in das Innenleben der berühmten Familie erhoffte – zu der neben Chico zum Beispiel noch die Sängerinnen Miucha und Cristina, sowie die Musikerin und kurzzeitige Kulturministerin Anna gehören –, wurde enttäuscht: „Mein deutscher Bruder“ ist Fiktion. Die Nähe des Rahmengerüstes zur wirklichen Welt – der Ich-Erzähler heißt wie Chico in Wirklichkeit Francisco, sein Spitzname wird im Buch zu Ciccio, der Vater heißt Sergio und ist ein gefeierter Intellektueller, der Familienname lautet Buarque de Hollander (in Wahrheit Buarque de Hollanda oder Holanda) – kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in dem Buch in erster Linie um etwas ganz Anderes geht: Es erinnert an die bleierne Zeit der Militärdiktatur in Brasilien und wie zu jener Zeit üblich, verschwinden ständig Menschen. Und zwar der Reihe nach fast das ganze Umfeld des armen Ciccio: erst sein bester Freund, dann dessen Freundin, schließlich noch der eigene ältere Bruder.
Dessen Abwesenheit ist Ciccio allerdings gar nicht so Unrecht, denn erstens schnappte er ihm jedes begehrte Mädchen weg, zweitens blieb er der einzige Empfänger väterlicher Zuneigung: So sehr Ciccio sich auch bemühte, etwa mit Literaturkenntnissen den Vater zu beeindrucken – er erntet nur Indifferenz. Nach dem Verschwinden des Bruders erkrankt der Vater aus Gram und stirbt alsbald; die Mutter, dem Gatten in bedingungsloser Bewunderung ergeben, folgt ihm kurz danach.
Der Tod der eigenen Mutter sorgte in Chico Buarques Leben wie in „Mein deutscher Bruder“ für eine entscheidende Wende: In ihrem Nachlass fanden sich alte Papiere, die schließlich dazu führten, dass Chico in Sergio Günther seinen Bruder fand. Als das geschah, hatte er das Buch jedoch bereits begonnen. Er schrieb es dennoch wie geplant weiter. Und fügte einen neuen Schluss hinzu, der Ciccio wieder näher an Chico heranführt: Die letzten 20 Seiten berichten vom Flug des fast 70-Jährigen nach Berlin und den Umständen, die schließlich zum erfolgreichen Ende der Suche führten.
Plötzlich wird aus dem kaum mehr als wirkliche Möglichkeit empfundenen Bruder, aus der Sehnsuchts- und Projektionsfläche ein höchst reales Schicksal. Für Chico dürfte das ein freudiges Ereignis gewesen sein, für Ciccio ist es letztlich der finale Verlust: Nach den realen Menschen verliert er in dem 1981 verstorbenen Halbbruder nun noch seine gewohnte, sinnstiftende Projektionsfläche.
Erinnerung und Fantasie
„Ich weiß manchmal nicht, was ist Erinnerung, was ist Fantasie, was ist Traum“, sagte Chico Buarque kürzlich in einem ZDF-Interview. Demgemäß hat er wohl ursprünglich im Sinn gehabt, diese surreale Suche nach einem womöglich gar nicht existierenden deutschen Bruder als Stoff zu nutzen in der Art seiner bisherigen metafiktionalen Romane wie „Vergossene Milch“ und „Budapest“.
Wie dort verwachsen auch hier die historisch belegbaren Fakten mit den Subjektivismen und all den False Memories zu einem hypnotisierend-anziehenden Irrgarten der Interpretation. Aber dann wird der Leser aus dieser kuscheligen, psychedelisch-psychologischen Wolke herausgeholt und in eine mindestens so unwirklich wirkende DDR-Wirklichkeit hineingestoßen. Im metafiktionalen Sinne ist ein solcher Bruch womöglich genau der Dreh, den Chico benötigte, um nicht ein weiteres Mal eine rauschhafte Fiktion wie in den früheren Romanen zu veröffentlichen. Was das Buch zu einem einerseits historisch-politisch wie andererseits erzähltheoretisch gewinnbringenden Leseerlebnis macht. Der brasilianische Leser hätte sich sicher über ein wenig mehr Buarque-De-Holanda-Klatsch gefreut. Der deutsche Leser wüsste wahrscheinlich gerne mehr über Sergio Günther.
Chico Buarque: „Mein deutscher Bruder“. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von K. v. Schweder-Schreiner, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2016, 256 S. 19,99 Euro
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