Biller Papers (7) Der werden, der er sein möchte: Eine Kritik „in progress“ zu Maxim Billers neuem Roman „Biografie“
: Liebe, Freundschaft, Verrat

Er emanzipiert sich, indem er aufhört, alles immer nur so zu machen, „wie er dachte, dass sie es von ihm wollten“

Serien seien wie Romane, hieß es lange. Heute kann man sagen: Romane sind wie Serien. Man will wissen, wie’s weitergeht, man freut sich auf die Abendstunden, und dann liest man viel zu lange. Und wenn man sich mal losgerissen hat und jemanden trifft, der gerade dieselbe Serie liest, ist das wunderbar. Irgendwann heißt es: „Ach, da warst du noch gar nicht? Das wird super, kannst dich drauf freuen, nein, ich verrate nix.“

Womit wir beim Stichwort Verrat sind. Maxim Billers ‚Biografie‘ ist ein Roman über Liebe, Freundschaft und Verrat. Sie bilden die Eckpunkte eines Dreiecks. Von der Liebe war in dieser Kolumne schon mehrmals die Rede.

Die Liebe von Eltern zu ihren Kindern ist ein Topos, den Maxim Billers Protagonisten fast manisch umkreisen, weil sie sich dieser Liebe nicht sicher sind. Immer wieder kehrt Soli Karubiner zu den an ihm nagenden Fragen zurück. Warum war der Vater so zornig, warum schlug er den Sohn, warum hat die Mutter das nicht verhindert, warum schickten sie ihn für ein Jahr zum Großvater nach Moskau?

Schläge lassen sich noch als kaputte Form der Liebe deuten, aber verlassen zu werden ist Verrat. Soli wird noch einmal verlassen, als seine Mutter zum Vater von Solis Schwester Serafina nach Miami zieht. Soli ist schon vierzig, aber als Verrat empfindet er es trotzdem. Die vielen Sexszenen in „Biografie“ sind vor allem dazu da, mehr oder weniger verschlüsselt von Gefühlen des als Verrat empfundenen Liebesentzugs und der dar­aus resultierenden Ur-Erfahrung der Ohnmacht zu erzählen.

Liebe und Verrat bedingen sich gegenseitig, auch Freundschaft ist ohne Liebe und Verrat nicht denkbar. Ein „Biografie“-Leser sagte kürzlich im Biergarten: „Das Schöne an diesem Roman ist, dass er von Freundschaft handelt. Die große, zärtliche Freundschaft zwischen Soli und Noah ist rührend.“

Freundschaft ist in diesem Roman ein liebevolles Verhältnis. Man könnte fast meinen, dass eine spezifische Definition von Freundschaft formuliert wird: Freunde sind Menschen, die dich nicht verraten. Vielleicht ist das aber auch zu idealistisch und apodiktisch formuliert. Wählen wir lieber den Imperativ: Freunde sind Menschen, die dich nicht verraten sollen.

In der Mitte dieses Buchs öffnet sich zwischen der atemlosen, ständig die Zeitebenen wechselnden Erzählung plötzlich ein Raum. In einer über viele Seiten hinweg entwickelten Szene wird Solis Freund Noah am Pazifikstrand von seinen vermeintlichen Freunden verlassen, die sich sodann in den Tempel eines buddhistischen Gurus begeben und dort ihre Verhältnisse klären, immer wieder auf Kosten des abwesenden Noah, während dieser im selben Moment erkennt, wie er sein Leben ändern muss, um derjenige zu werden, der er sein möchte.

Er muss sich emanzipieren, indem er aufhört, alles immer nur so zu machen, „wie er dachte, dass sie es von ihm wollten“. Sie, das sind die Eltern, das Kindermädchen, sein Freund Soli, seine Frau, aber auch das Weltgewissen und schließlich, „Gott, den es nicht gab“.

Mit dieser Episode korrespondiert eine in Form eines Märchens erzählte Geschichte. Sie handelt davon, wie Solis Vater seinen Großvater verrät, um sich aus dem Gefängnis zu befreien, während er selbst von seiner Frau verraten wird, die ihn mit einem anderen betrügt. All das geschieht im Königreich Rotland.

Trotz ständiger Nazireferenzen arbeitet sich Biller in „Biografie“ daran ab, was der Stalinismus und seine Verfallsformen im 20. Jahrhundert angerichtet haben. Verrat gab es auch in Nazideutschland, aber in der Sowjetunion war er die zentrale Schnittstelle zwischen Staat, Ideologie und Familienleben. Volksschädlinge sind in diesem System nicht die an­deren, die vernichtet werden müssen, eben weil sie anders sind. Es sind Väter, Mütter, Kinder.

Im Märchen verrät Mojsche der Grebser seinen Vater, weil er selbst des Verrats angeklagt ist. Er hat ein Gedicht geschrieben, in dem er die Wahrheit über den König von Rotland gesagt hat. Ulrich Gutmair

Die gesammelten Folgen der Biller Papers finden sie unter taz.de/BillerPapers