: In den Endzügen
Aufsichtsräte, die um ihren Geldbeutel fürchten. Ein DB-Manager, der lächelnd höhere Kosten verkündet. Eine SPD-Abgeordnete, die ins Grübeln gerät. Und ein grüner Verkehrsminister, der keine Verträge kündigen kann. Das bestgeplante Bauprojekt Europas liegt in den Endzügen. Das kommentierte Protokoll einer verrückten Woche
von Winfried Wolf
Montag, 10. Dezember, 11 Uhr: Auf einer Pressekonferenz des Verkehrsclubs Deutschland (VCD), des BUND und des Aktionsbündnisses gegen S 21 werden die Hauptstadtmedien auf die neue Situation in Sachen Stuttgart 21 eingestimmt. Es geht um Kostensteigerungen, Kapazitätsabbau und den fehlenden Brandschutz. Das volle Programm eben. Das Fazit der Organisatoren: „Stuttgart 21 ist am Ende. Auch wenn die Frage nach der Verantwortung jetzt die Schlagzeilen beherrschen wird, müssen jetzt schnell konstruktive Auswege gefunden werden.“
Kommentar: Welche politische Verantwortung ist gemeint? Die Landesregierung in Baden-Württemberg und der designierte OB der Landeshauptstadt, Fritz Kuhn, werden nicht genannt.
Mittwoch, 12. Dezember, 9 Uhr: Im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des Bundestags wird der Tagesordnungspunkt 18 aufgerufen: „Bericht des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf Antrag der Fraktion der SPD: Kostenentwicklung bei Stuttgart 21.“ Das Thema wird zu Beginn der Sitzung von der Mehrheit der Koalition von der Tagesordnung gefegt. Der Hinweis, es müsse doch die Möglichkeit geben, dass den Vertretern des Bundes im Aufsichtsrat ein klares Votum des Eigentümers, respektive des Verkehrsausschusses, mit auf den Weg gegeben werde, wird unter Verweis auf die „Unabhängigkeit des Aufsichtsrats“ abgebügelt.
Plötzlich ist die Bahn völlig unabhängig vom Bund
Kommentar: Selbst wenn der Aufsichtsrat eine neutrale Instanz wäre, was er nicht ist, hätte der Eigentümer Bund natürlich ein Durchgriffsrecht auf den Bahnvorstand. Dass er davon in der Vergangenheit immer wieder Gebrauch gemacht hat, ist hinlänglich bekannt. So setzte Kanzler Gerhard Schröder 1999 Hartmut Mehdorn als neuen Bahnchef von außen ein. Kanzlerin Angela Merkel feuerte Mehdorn 2009 und installierte Rüdiger Grube als Nachfolger. Die rot-grüne Bundesregierung unterstützte in der Koalitionsvereinbarung von 2002 sogar das neue Bahnpreissystem PEP, das dann kläglich scheiterte. Doch beim Großprojekt Stuttgart 21 heißt es seit eineinhalb Jahrzehnten, es handle sich hier um ein „eigenwirtschaftliches Projekt der Bahn“, man werde die „Unabhängigkeit der Aktiengesellschaft wahren“.
Mittwoch, 12. Dezember: Kurz darauf tagt der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG. Zu der top-wichtigen Sitzung werden zum Tagesordnungspunkt Stuttgart 21 keine Unterlagen vorab übersandt – aus Angst, diese könnten an die Medien gelangen. Derart gut vorbereitet, hören sich die Aufsichtsräte den Bericht des Vorstands „auf Basis des Sechs-Punkte-Programms vom April 2012“ an. Hier handelt es sich eigentlich um ein Programm zur Eindämmung der S-21-Kosten. In der Bilanz dieser Sitzung heißt es auf der Bahn-Website dann lapidar: „Durch die Erhöhung des Finanzierungsrahmens auf 5,626 Milliarden Euro sind alle im Sechs-Punkte-Programm herausgearbeiteten Mehrkosten abgedeckt. Der Aufsichtsrat ist über zusätzliche Risiken informiert worden, die sich zukünftig aus externen Einflussfaktoren ergeben können. Diese Risiken können sich auf eine Höhe von mehreren hundert Millionen Euro summieren. In diesem Zusammenhang hat der Aufsichtsrat den Vorstand aufgefordert, die Interessen der Deutschen Bahn AG mittels der sogenannten Sprechklausel durchzusetzen.“
Das heißt: die Kostensteigerungen um 1,1 bis 2,5 Milliarden Euro werden weitgehend unkommentiert hingenommen. (Später wird die Meldung laufen, dass die Aufsichtsräte ein Rechtsgutachten in Auftrag geben wollen, in dem ihre private Haftung geprüft werden soll.) Im Klartext: ein Dokument zur Eindämmung der Kosten genügt, um die Kostenexplosion als „abgedeckt“ zu bezeichnen. Danach muss DB-Technikvorstand Volker Kefer die katastrophale Fehlkalkulation gegenüber den Medien erläutern. Die Presse schreibt: „Kefer präsentierte die Zahlen so, wie er bei der Schlichtung in Stuttgart am Tisch gesessen hatte: stets mit einem freundlichen Lächeln.“ Zu den eingestandenen 1,1 Milliarden Mehrkosten sagt er, diese wolle die Bahn „selbst schultern“, damit komme es „zur Befriedung des Projekts“.
Kommentar: Hier wurde ein für eine Aktiengesellschaft höchst interessantes Unternehmensziel formuliert: Befriedung eines Großprojekts. Dafür investiert die Bahn satte 1,1 Milliarden Euro. Dazu muss man wissen, dass sich in der Runde der Aufsichtsräte mit Jürgen Krumnow ein Vertreter aus dem Umfeld der Deutschen Bank befindet, die wiederum ein Interesse an der S-21-Finanzierung hat. Jürgen Großmann tätigt als Alleineigentümer der Georgsmarienhütte lukrative Geschäfte mit der Deutschen Bahn AG, und in dem Aufsichtsratsvorsitzenden Utz-Helmuth Felcht ist ein Spitzenvertreter aus dem Bereich der Hedgefonds („One Equity Partners“) eingebunden. Wohlgemerkt: es handelt sich hier um Personen auf der Arbeitgeberseite der Aufsichtsräte, um Leute, die den 100-prozentigen Eigentümer Bund vertreten sollen.
Freitag, 14. Dezember, 8 Uhr: Nichtöffentliche Sondersitzung des Verkehrsausschusses. Die Deutsche Bahn AG wird erneut durch Volker Kefer vertreten. Rüdiger Grube ist terminlich verhindert, womöglich bei einer Feier, um die zwei Tage zuvor beschlossene vorzeitige Verlängerung seines Arbeitsvertrags bis 2017 würdig zu begehen. Kefer wiederholt im Wesentlichen das, was er zwei Tage zuvor auf der Pressekonferenz gesagt hat. Auf die Nachfrage, woher denn die massiven Mehrkosten kämen, verweist er darauf, dass „auf dem Gelände der Bahntrasse bisher nicht bekannte Leitungen gefunden“ wurden, was „zu Kosten führte, die wir vorher nicht haben einplanen“ können.
Die Botschaft: Wir jonglieren so lange, bis sich S 21 rechnet
Doch dann wartet er mit bemerkenswerten Zahlen auf. Erstmals werden jetzt konkrete Renditerechnungen vorgelegt. Danach hätte S 21 bei den bisher gedeckelten Gesamtkosten von 4,5 Milliarden Euro „eine Rendite von 7,5 Prozent“ gehabt. Bei der neu errechneten Bausumme von 5,6 Milliarden Euro seien es „nur noch zwei Prozent“. Zum Zweiten wählt Kefer die Formulierung, beim heutigen Kenntnisstand würde „man Stuttgart 21 nicht neu angehen“. Doch die Bahn habe eine „Ausführungspflicht“, und es sei nicht erkennbar, dass die zwei anderen Projektpartner – Land und Stadt – sie aus dieser Verpflichtung entlassen würden. Das wird von dem Grünen-MdB Harald Ebner und der verkehrspolitischen Sprecherin der Linken, Sabine Leidig, als „Gesprächsbereitschaft für einen Ausstieg“ interpretiert.
Kommentar: Gut zu wissen, dass die Bahn an S 21 doppelt so viel verdienen wollte wie im Bereich ihrer Auslandsengagements. Das Zusammenschnurren der Rendite auf ein Viertel bei dem aktuell eingestandenen Anstieg der Baukosten auf 5,6 Milliarden Euro besagt, dass nach Kefers neuen Zahlen das gesamte Projekt komplett unwirtschaftlich wird, wenn die absehbaren weiteren Kostensteigerungen von mehr als einer Milliarde Euro eingerechnet werden. Wie erinnerlich, hat Bahnchef Grube 2010 und 2011 landauf, landab verkündet, bei höheren Kosten als 4,5 Milliarden Euro sei „Stuttgart 21 unwirtschaftlich“. Als Botschaft bleibt also nur: Wir jonglieren so lange, bis S 21 sich rechnet, weil nur so die Lage vor Ort „befriedet wird“. Und das ist unser politischer Auftrag, den der Eigentümer Bund vorgibt.
Freitag, 14. Dezember 2012, 15 bis 16.30 Uhr: Aktuelle Stunde im Bundestag zu Stuttgart 21. Weniger als 10 Prozent der Abgeordneten sind beim letzten Tagesordnungspunkt am letzten Sitzungstag im Plenarsaal. Auch Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) ist terminlich verhindert. Die Abgeordneten der Koalitionsparteien konzentrieren sich zunächst auf den Flughafen Berlin-Brandenburg (BER), wie Oliver Luksic von der FDP, der fast ausschließlich vom BER spricht und dort ähnliche Kostensteigerungen wie bei S 21 erkennt. Oder sie wirken wie aus der Zeit gefallen, wie Thomas Jarzombek (CDU/CSU), der S 21 als „große wirtschaftliche Chance“ betrachtet und von der „Anbindung Stuttgarts an das internationale Wegenetz“ spricht. Sören Bartol von der SPD fordert, dass „die Partner sich an den Mehrkosten“ beteiligen, und die Stuttgarter Genossin Ute Kumpf erklärt, selbst sie als S-21-Befürworterin käme inzwischen „schon ins Grübeln“.
Bei den Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen, Sven-Christian Kindler und Anton Hofreiter, steht die Kostensteigerung im Zentrum. Hofreiter sagt, hier sei „noch lange nicht das Ende der Fahnenstange“ erreicht. Sabine Leidig kritisiert, dass die Bahn „sogenannte nicht stichhaltige Risiken vor der Volksabstimmung aus den Projektkosten herausgerechnet“ habe, und fordert die „Ablösung des Bahnvorstands“. Sie appelliert insbesondere an die Grünen: "Sie haben die Landtagswahl gewonnen. Herr Kuhn sitzt hier als designierter Oberbürgermeister von Stuttgart. Ich finde, das ist ein deutlicher Ausdruck dafür, dass der Protest gegen Stuttgart 21 auch in der Stadtpolitik Niederschlag gefunden hat. Aber jetzt müssen Sie die nötigen Schritte machen, um aus dem Projekt auszusteigen."
Die Grünen haben eine große Chance vertan
Kommentar: Die Debatte in der Aktuellen Stunde des Bundestags bietet eine große Chance für die Grünen, sich zumindest jetzt dem neuen Widerstand gegen S 21 wieder ohne Wenn und Aber anzuschließen und die eigene Verantwortung in Baden-Württemberg zu nutzen, um einen Weg des Ausstiegs aus dem zerstörerischen Großprojekt zu weisen. Ein Auftritt von Ministerpräsident Winfried Kretschmann oder Verkehrsminister Winfried Hermann in der Bundestagsdebatte wäre ein Zeichen gewesen. Doch die Chance wird vertan.
War S 21 schon immer auch ein „politisches Projekt“?
Sonntag, 16. Dezember 2012: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlicht ein Interview mit Winfried Hermann. Auf die Frage: „Warum sagen Sie als Verkehrsminister jetzt nicht: Stopp. Schütten wir das Loch am Nordflügel einfach wieder zu?“ antwortet Hermann: „Das kann ich nicht. Es gibt Verträge. Die Bahn ist Bauherr, nicht ich. Der Vorstand und der Aufsichtsrat müssen nun ihm Rahmen ihrer Verantwortung prüfen und entscheiden.“ Im gleichen Interview sagt Hermann allerdings auch: „Das Projekt war von Anfang an ein politisches Projekt der früher CDU-geführten Landesregierung und der Landeshauptstadt Stuttgart.“
Kommentar: Was gilt jetzt? Handelt es sich nur um ein Projekt der Bahn? Und ist die Bahn, also faktisch der Bund, wirklich unumschränkte Bauherrin? Oder war S 21 schon immer auch ein „politisches Projekt“ von Land und Stadt? Es stimmt schlicht nicht, dass die Landesregierung nicht Stopp sagen kann. Es ist falsch, dass „es Verträge gibt“, die einem solchen Ausstieg und einem „Das-Loch-einfach-Zuschütten“ im Wege stehen. In den letzten Monaten wurde ein gutes halbes Dutzend solcher juristisch gangbarer Wege für einen Ausstieg genannt: nicht genehmigte Grundwasserentnahme, nach deutschem und EU-Recht nicht genehmigungsfähiges Gefälle des Tiefbahnhofs, fehlende Planfeststellungen bei strategisch wichtigen Bauabschnitten, fehlendes genehmigungsfähiges Brandschutzkonzept, nachgewiesene Manipulationen beim Stresstest und damit nachgewiesener Kapazitätsabbau des Tiefbahnhofs im Vergleich zum bestehenden Kopfbahnhof. Und, bezogen auf Letzteres, der eklatante Gesetzesverstoß hinsichtlich Paragraf 11 Allgemeines Eisenbahngesetz (AEG), wonach eine „mehr als geringfügige“ Kapazitätsverminderung beim Eisenbahn-Bundesamt beantragt und von diesem und dem Verkehrsministerium genehmigt werden muss. Einen solchen Antrag gab es – naturgemäß – nicht.
Zur Erinnerung: Volker Kefer verweist am 14. Dezember bei der Sondersitzung des Verkehrsausschusses auf „weitere Risiken in Höhe einiger hundert Millionen Euro“ hin und darauf, dass „wir diese nicht allein steuern können. Hier benötigen wir die Unterstützung der Projektpartner“. Exakt zugeschnitten auf einen solchen Fall hielt die grün-rote Landesregierung im Sommer 2011 in der Begründung des Gesetzestextes „über die Ausübung von Kündigungsrechten bei Stuttgart 21“ Folgendes fest: Bei Kostensteigerungen, die nicht „in vollem Umfang von der Deutschen Bahn AG finanziert“ werden, sei „dem Land ein Festhalten an dem S-21-Vertrag nicht zumutbar und ein Kündigungsrecht nach § 60, Absatz 1, Satz 1 Landesverwaltungsverfahrensgesetz (LVwVfG) gegeben“.
Winfried Wolf (63) ist einer der kenntnisreichsten kritischen Verkehrsexperten. Der gebürtige Horber beschäftigt sich seit 1996 mit Stuttgart 21, ist Sprecher von Pro Bahn Berlin-Brandenburg, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac und berät Die Linke in verkehrspolitischen Fragen.
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