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Kalkulation des Menschlichen

Austausch Ein Kunstprojekt auf dem Vorplatz des Deutschen Theaters fragt nach den wirtschaftlichen Interessen von zwischenmenschlichen Beziehungen. Eine gedankliche Exkursion

Denn erst rechnen heißt wirtschaften – in allen Lebensbereichen

von Helmut Höge

„Gibt es zwischenmenschliche Beziehungen ohne wirtschaftliche Interessen?“ Fragen sich und uns fast den ganzen den Mai über Geflüchtete aus mehreren Ländern – in der „Wechselstube“ auf dem Vorplatz des Deutschen Theaters. Dabei handelt es sich um ein Künstlerprojekt im Rahmen der Berlin Mondiale.

Sucht man nach einer historischen Antwort auf ihre Ausgangsfrage, d. h. nach noch nicht vom Warentausch erfassten Gesellschaften, lässt sie sich bejahen. So schrieb z. B. der Soziologe Marcel Mauss in seiner berühmten Studie „Die Gabe“ (1923/24): „Erst unsere Gesellschaften haben, vor relativ kurzer Zeit, den Menschen zu einem ‚ökonomischen Tier‘ gemacht- Es ist noch nicht lange her, seit er eine Maschine geworden ist – und gar eine Rechenmaschine.“

Marcel Mauss konnte sich u. a. auf den polnischen Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski berufen, dessen dreijährige „Feldforschung“ bei den Trobriandern in der Südsee, die in mehreren Büchern ihren Niederschlag fand, zu den Pioniertaten der Ethnologie zählt. In „Korallengärten und ihre Magie“ (1935) versuchte Malinowski das dem Gabentausch (im Gegensatz zum Warentausch) innewohnende Denken zu veranschaulichen: Auf den Trobriand-Inseln gibt es fünf Dörfer, deren Bewohner neben Gartenbau, den alle betreiben, noch fischen gehen. Dazu gehört auch eine Perlmuschel, Lapi' dort genannt, die traditionell als wichtigste essbare Muschel gilt. „Wenn man eine Muschel öffnete und dabei eine große, wohl gerundete Perle fand, gab man sie meist den Kindern zum Spielen. Unter europäischem Einfluss ist nun ein neuer Erwerbszweig aufgeblüht; dank der klugen Gesetzgebung von Papua-Neuguinea ist es europäischen Händlern nämlich untersagt, die Perlenfischerei selbst auszuüben oder zu organisieren; erlaubt ist lediglich, den Eingeborenen Perlen anzukaufen.“ Das hat sich für die fünf Gemeinden als eine „große Einkommensquelle“ erwiesen. Aber es hat ihre Inselgesellschaften nicht durcheinandergebracht: „Obgleich nämlich die Perlenfischerei Aussicht auf unermesslichen Reichtum eröffnet und die gesamte Verteilung der Macht in Frage stellt, wird sie doch nur in den fünf Gemeinden betrieben, in denen man schon immer nach Lapi‘-Muscheln tauchte.“

Zudem haben die Trobriander nur geringen Bedarf an europäischen Waren, sei es Schmuck, Eisenwaren oder anderes. Immer wieder bieten europäische Händler Neues an, versuchen sogar in Europa bestimmte Dinge für sie aus Südsee-Materialien herzustellen. Eigentlich haben die Trobriander nur Interesse an Tabak, und das auch nur in kleinen Mengen. Umgekehrt zeigen sie „für die kindische Sucht der Europäer nach Perlen Verachtung.“ Für die Trobriander in den erwähnten fünf Gemeinden kommt der Gartenbau (für den Eigenbedarf) zuerst, dann der Fischfang (zu Tauschzwecken) „und zuletzt die Perlenfischerei“. Ein Händler schimpfte gegenüber Malinowski über sie: Wenn die Gärten in voller Reife stehen „schwimmen diese gottverdammten Nigger nicht, auch wenn du sie mit Kaloma (Schmuckmuscheln) und Tabak vollstopfst.“ Wenn aufgrund einer Übereinkunft mit einer Gartenbaugemeinde ein großer Fischzug unternommen werden muss, „kann rein gar nichts diese Hornochsen dazu bringen, sich ordentlich um die Lapi'-Muscheln zu kümmern.“ Inzwischen ist den Trobriandern das Warendenken nicht mehr fremd, da fast die ganze Menschheit der Geld- und (Zeit-)Logik unterworfen wurde. Aber ein kleines Volk in Amazonien, mit kaum 400 Menschen, ist anscheinend standhaft geblieben: Es nennt sich „Hiaiti'ihi“ (die Aufrechten), Piraha heißen sie bei den Weißen. Sie führen ein „Leben ohne Zahl und Zeit“, schreibt der Spiegel. Außerdem kennen sie keinen Gott und keine Götter, haben keine Rituale und keinen Besitz. „Hüter der Glücksformel“ werden sie genannt, weil der erste Erforscher ihrer Lebensweise und ihrer komplizierten Sprache, der Linguist Dan Everett, sie „Das glücklichste Volk“ (2012) nannte.

„Die Piraha wollen nicht wie Amerikaner leben“, sagten sie ihm. „Wir trinken gern. Wir lieben nicht nur eine Frau. Wir wollen Jesus nicht. Und auch nichts von ihm hören.“ Nach einer Glaubenskrise reifte in dem US-Missionar, der sich dann noch zum Linguisten umschulen ließ, eine Erkenntnis, die die Frage aufwarf: „Ist es möglich, ein Leben ohne die Krücken von Religion und Wahrheit zu führen?

Die Piraha machen es uns vor. Sie stellen das Unmittelbare in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit und damit beseitigen sie mit einem Schlag gewaltige Ursachen von Besorgnis, Angst und Verzweiflung, die so viele Menschen in den westlichen Gesellschaften heimsuchen.“ Weil die Flusshändler sie immer wieder betrogen, wollten sie wenigstens ein bisschen Rechnen lernen, aber es ging nicht: Ihre transzendentale Gegenwart und ihre genaue Wahrnehmung verhinderte das Denken mit der Abstraktion Zahl. Die Begriffe für „links“ und „rechts“ kennen sie ebenfalls nicht, auch keine Farbwörter. Und keine Häuptlinge, Rituale, Initiationen, weder Schwüre noch Schmuck, und keine Diskriminierung von Frauen oder Kindern – wenn man Everett glauben darf. Auf alle Fälle gehören sie zu den ganz wenigen „nicht-mathematischen Völkern“ der Welt, und erst rechnen heißt wirtschaften – in allen Lebensbereichen.

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