20 Jahre Stolpersteine: Ein wegweisendes Projekt
Am 3. Mai 1996 verlegte Gunter Demnig in Kreuzberg die offiziell ersten Stolpersteine. Tatsächlich ist das Konzept noch älter. Eine Spurensuche.
Sie gehören zum selbstverständlichen Inventar der bundesrepublikanischen und inzwischen sogar der europaweiten Erinnerungskultur – und zum Alltagsbild auf den Straßen vieler deutscher Städte: die sogenannten Stolpersteine. Auf den zehn mal zehn Zentimeter großen Betonwürfeln sind die Namen von NS-Opfern in Metall eingeschlagen, ergänzt durch Geburtsjahrgang, Verfolgungs- und/oder Verurteilungsgrund, Deportationsziel und -datum sowie meist das Todesdatum.
Offiziell wurde der erste Stein vor genau 20 Jahren verlegt, am 3. Mai 1996 in Kreuzberg. So steht es auf der Webseite des Ideengebers Gunter Demnig. Der 68-jährige Bildhauer und Erfinder der Steine lebt und arbeitet in Frechen, einem kleinen Ort bei Köln. Der Grund für die Verlegung der ersten Steine war die Ausstellung „Künstler forschen nach Auschwitz“. Sie fand an zwei Örtlichkeiten in Berlin statt: in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in der Oranienstraße und im „Haus am Kleistpark“. Demnig war gleich mit zwei Installationen vertreten: In den Ausstellungsräumen stand seine Installation Lemniskate – ein Lokomotivmodell der „BR 53“, die bei den NS-Deportationen eine besondere Rolle spielte, weil sie äußerst zugkräftig war. Das Modell fährt auf einer Endlosschleife. Auf dem Straßenpflaster der Oranienstraße war die zweite Installation zu finden: die Stolpersteine.
Weltweit einmalig
Es war der Auftakt eines Projekts, das weltweit einmalig ist und das die deutsche Gedenkkultur nachhaltig beeinflusste. Aus den ersten 47 Steinen in Berlin sind bis heute mehr als 56.000 in ganz Europa geworden. Verschiedentlich wird es als „Denkmal von unten“, in Anlehnung an Beuys als „Soziale Skulptur“, als „Volksbewegung des Erinnerns“ und als „bürgerschaftliches Projekt“ bezeichnet. Eine der am häufigsten verwendete Phrasen ist die vom „größten dezentralen Mahnmal weltweit“. Sie ist zugleich die problematischste. Größe war es ja gerade nicht, was der Künstler anstrebte.
Dieser Weg der Stolpersteine war im Mai 1996 noch nicht absehbar. Die Aufmerksamkeit war mäßig, die Kritiker nicht begeistert. Die Ausstellung fiel in eine Zwischenzeit: Die bundesrepublikanische Gesellschaft rang um ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlins Mitte, in der Nähe des Brandenburger Tors. Gerade hatten Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und mit ihm der Historiker Reinhard Koselleck („Denkmäler sind Stolpersteine“) und viele andere den Siegerentwurf von Christine Jackob-Marks abgelehnt. Er sah eine schiefe Betonebene vor, auf der die Namen der Opfer eingeschlagen werden sollten. Neue Entwürfe wurden 1997 eingeholt.
Offiziell war die Berliner Ausstellung kein Gegen-Denkmal-Wettbewerb – und doch war sie die Geburtsstätte und der Ausgangspunkt genau davon. Nur ahnte das niemand. Im Gegenteil. Der Ausstellungsflyer kündigte Demnigs Arbeiten als Kunstprojekte, seine Stolpersteine als „Aktion im öffentlichen Raum“ an. Die Steine würden die Vergangenheit „aus der Versenkung“ holen, diese würde dadurch „ausgegraben“ und „im öffentlichen Raum präsent“. Kein Wort ist darüber zu lesen, dass sie ein „Mahnmal“, ein „Denkmal“, ein „Gegen-Denkmal“ seien.
Ein Kritiker urteilte über Demnigs Installation Lemniskate wenig charmant: „Na und?“ Und über die Stolpersteine, die er als zumindest „erheblich eindrucksvoller“ einstufte, schrieb er, dass sie die „Grenzen des individualisierten Gedenkens“ aufzeigen würden. Wenn der Betrachter lediglich die Namen kenne, bliebe der Zugang „abstrakt und gleichzeitig ahistorischer, als es selbst restaurierte KZ-Anlagen“ seien. „Nur die Namen genügen nicht“, titelte er.
War das nur eine der üblichen Fehleinschätzungen, denen zeitgenössische Kunst zuweilen unterworfen ist? Nein, der Kritiker hatte etwas angesprochen und dem Projekt vorgeworfen, was zu einem späteren Merkmal der Stolpersteine werden sollte. Denn bei den bloßen Namen blieb es wirklich nicht. Angestoßen durch die Steine forschten und forschen Hunderte, vielleicht Tausende Einzelpersonen – Schüler, Paten, Initiativen, Archivare – nach den Biografien der Menschen, deren Namen auf den Steinen stehen. Am beeindruckendsten ist die 17 Bände umfassende Biografiensammlung zu den NS-Opfern in Hamburg, herausgegeben von der Zentrale für politische Bildung, initiiert von Stolpersteine-Aktivisten der Stadt.
Unspektakuläre Aktion
Das Neue an den Steinen blieb damals unerkannt. Ebenso, wie ihre Verlegung am jenem Maifreitag 1996 unspektakulär verlief: Niemand fühlte sich provoziert, keiner erhob Einspruch, die Presse war nicht anwesend, lediglich ein Fotograf im Auftrag der NGBK machte ein paar Fotos, eine Freundin des Künstlers fertigte einige Dias an.
Als ich Gunter Demnig frage, ob er sich daran erinnere, welches der erste Stein gewesen sei, schreibt er in einer eiligen E-Mail: „Oranienstr./Skalitzer Str.“ Einer erhaltenen Verlegeliste nach handelt es sich um die Oranienstraße 207. Es ist eine Serie von elf Steinen.
Diese ersten Steine, verlegt ohne Genehmigung, musste Demnig ein paar Monate später wieder herausholen und um etwa 1,5 Meter versetzt neu platzieren. Die Begründung war, so der Künstler, man habe Bedenken, dass Fußgänger auf den Steinen ausrutschen könnten.
Doch Demnig schuf die Idee der Steine nicht originär für die Ausstellung in Berlin-Kreuzberg. Sie ist älter. Die Spur zu den Steinen führt nach Köln. Dort wurden bereits im Januar 1995 insgesamt 20 Stolpersteine verlegt. Dies ging zurück auf die Ausstellung „Stolpersteine – Spuren gegen das Vergessen“ in der Kölner Antoniterkirche im Herbst 1994.
Der damalige Pfarrer, Kurt-Werner Pick, schrieb in dem Ankündigungsflyer, dass der Künstler mit seinem Stolperstein-Projekt „über kurz oder lang mit der Antoniterkirche in Kontakt geraten“ wäre. Als Begründung gab er an: „An dieser Kirche gewähren wir ja seit zwei Jahren von der Abschiebung bedrohten Roma-Familien Kirchenasyl. Durch die Asylgewährung haben sich viele in unserer Gemeinde intensiv mit der Lebenssituation von Roma beschäftigt. Und dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.“ Das Kirchenasyl der beiden Roma-Familien dauerte fünfeinhalb Jahre und endete mit der Legalisierung ihres Aufenthalts.
Ziel dieser Ausstellung war es, nicht nur rund 200 Stolpersteine anzufertigen und in der Kirche zu zeigen. Vielmehr sollten diese Steine „sukzessiv an die Adressen verbracht werden, an denen die Personen gewohnt haben.“ Dieses Muster – Ausstellung und Verlegung – wiederholte Demnig knapp zwei Jahre später in Berlin.
Ein Foto in dem Kölner Flyer von 1994 zeigte auch einen Stolperstein. Die Inschrift lautete: „Hier wohnte Lene Pohl, † 10. März 1944, Auschwitz“.
Das Bemerkenswerte an dieser Inschrift ist, dass sie den Namen einer Sintezza nannte. Wenige Monate später anonymisierte Demnig die Namen der NS-verfolgten Sinti und Roma auf Wunsch der Opferorganisation und Hinterbliebenen. Sie befürchteten Diskriminierungen, wenn ihre Namen bekannt würden. Das Bemerkenswerte an dem Stein ist also, dass er der erste öffentlich abgebildete Stolperstein ist – er wurde jedoch wegen der späteren Anonymisierung nie verlegt.
Am 4. Januar 1995 entschloss sich Demnig zu einer Umsetzung der Ausstellungskonzeption, nachdem sich die Genehmigung für die Verlegungen hinausgezögert hatte. Zumindest 20 Steine sollten verlegt werden. Er nannte sie „Probeverlegung“ beziehungsweise „Versuchsverlegung“. Die Kölner Verwaltung reagierte prompt: Er habe, so der Künstler, „einen Riesenanschiss“ vom Kölner Stadtplanungsamt bekommen. Demnig zog es daraufhin vor, die restlichen über 200 Steine vorerst nicht zu verlegen. Damit lag das Projekt in Köln auf Eis.
Blaupause für Berlin
Aber auch die Kölner Ausstellung, die die Blaupause für die Berliner Verlegungen abgab, war nicht das Ursprungsprojekt der Steine. Im Herbst 1993 hatte Demnig in dem von Gabriele Lindinger und Karlheinz Schmid herausgegebenen Band „Größenwahn. Kunstprojekte für Europa“ das „Projekt Stolperstein“ veröffentlicht.
Sind wir damit an den Anfang des Projekts angelangt? Ja und nein. Ja, weil das grundsätzliche Prinzip in diesem Text zum ersten Mal beschrieben wurde. Nein, weil das beigefügte Bildbeispiel zwar einen quadratischen Betonwürfel mit einer ausführlichen Inschrift zeigt. Aber bis auf die quadratische Form und die Deckplatte aus Hartmessing hatte dieser Stein mit den späteren Stolpersteinen keine Ähnlichkeit.
Der dort gezeigte Stein wurde am 16. Dezember 1992 vor dem Kölner Historischen Rathaus verlegt. Der Text gibt den Schnellbrief vom Januar 1943 wieder, der die Auschwitz-Deportationen der Sinti und Roma regelte. Er fußt auf dem „Auschwitz-Erlass“ Heinrich Himmlers vom 16. Dezember 1942, der selber nicht überliefert ist.
Diese Spur zeigt eine der wichtigsten Wurzeln des Stolperstein-Projektes auf: Demnigs künstlerisches Engagement für das Gedenken an die NS-Verfolgung der Sinti und Roma in Köln. Es begann mit einer Schriftspur aus weißer Kreide mit der Aufschrift „Mai 1940 – 1.000 Roma und Sinti“, die er am 16. Mai 1990 mit einer von ihm entworfenen Maschine auf das Kölner Straßenpflaster druckte. Sie markierte den Weg, den die Sinti und Roma vom Internierungslager in Köln-Bickendorf durch die Stadt zum Bahnhof in Köln-Deutz zurücklegen mussten. Von hier aus starteten die Deportationen nach Polen.
Hinweis auf die Wohnorte
Die Spur weicht an vielen Stellen von der direkten Route ab und verknüpft die Stadtviertel und Straßenzüge miteinander, in denen die Sinti und Roma-Familien gewohnt hatten. Hiermit sollte gezeigt werden, dass die später Deportierten zuvor Nachbarn waren. Damit war ein Grundzug des späteren Stolperstein-Projektes gelegt: der Hinweis auf die Wohnorte.
Im Oktober 1990 stellte der Verein Rom e. V. den Antrag, die Spur unter Denkmalschutz zu stellen. Als Antwort entwirft der Denkmalpfleger der Stadt den Plan, sie an ausgewählten Stellen im Straßenpflaster als Metallspur zu verankern. Dann jedoch verheddern sich die Verhandlungen im Verwaltungsdickicht der Stadt.
Um ihrer Forderung größeren Nachdruck zu verleihen, entwickeln Rom e. V. und Demnig die Idee, vor dem Historischen Rathaus zum 50. Jahrestag den Text des Auschwitz-Erlasses Himmlers im Boden zu verankern – ohne um eine Genehmigung nachzufragen. Die Quasi-Überrumpelung gelingt. Die Verwaltung grummelt, aber der Stein bleibt. Dieser Stein vom 16. Dezember 1992 wurde – in der Presse nachweisbar – Stolperstein genannt. Damit war der Name des späteren Projekts geboren.
Im Grunde erfand Gunter Demnig seine Stolpersteine mehrfach. Anstößig waren sie dabei immer. Anfangs stießen sich vor allem die jeweiligen Stadtverwaltungen an den kleinen Steinen im Gehweg: „Illegal“ seien die, weil ohne Genehmigung. Angestoßen haben die Stolpersteine in den folgenden Jahren Enormes – etwas, was so nicht geplant, aber doch gehofft war: bürgerschaftliches Engagement. Umgestoßen haben sie eine bis dahin geltende Gedenkkultur der hierarchischen Dominanz: von oben nach unten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker